Der Veteran greift an

„Bush schien sich in seiner eigenen Haut unwohl zu fühlen“, meint Noah„Kerry war gelassen, aggressiv und dennoch respektvoll“, beobachtete Dan

AUS WASHINGTONMICHAEL STRECK

Donnerstagnacht schauten Freunde, Familien und online-organisierte Zuschauergruppen wildfremder Menschen das Duell zwischen Präsident George W. Bush und John Kerry. Allein in Washington verwandelten sich hunderte Wohnzimmer in TV-Kneipen und erinnerten an die Zeit, als man zum Nachbarn ging, weil dessen Bildschirm bereits farbig oder der Empfang störungsfrei war.

In der Park Road Nummer 1116 im Stadtteil Columbia Heights, wo auf der Straße mehr Spanisch als Englisch gesprochen wird, treffen sich in der Wohnung von Joe, Anfang 30, der bei der „Federal Reserve“ arbeitet, sein etwas älterer Kollege David, der 24-jährige Videokünstler Noah aus North Carolina, und Dan, 29 Jahre und Galerist aus Delaware. Bis auf David, der sich selbst als unabhängiger Wähler bezeichnet, sind alle sattelfeste Demokraten.

So besteht also keine Gefahr, dass sich große Sympathien für den Präsidenten entfalten würden. Allerdings war auch keiner der Anwesenden bislang von Kerry verzückt. Anders als die von den Medien aufgeputschte Erwartung an einen magischen Auftritt des Senators aus Massachusetts, geben sich hier alle betont nüchtern. Niemand glaubt mehr an Kerrys legendäre Aufholjagd-Qualitäten. Umso mehr fürchten sie Bushs Disziplin und sturen Einzeiler, die schon Al Gore zum Verhängnis wurden. „Ich habe dieses dumme Gefühl, dass Bush es wieder packen wird“, fasst Dan eine mittlerweile unter Liberalen verbreitete Stimmung zusammen. Außerdem, meint Joe, würden die Medien Bush, selbst wenn er kläglich abschneidet, am Ende wieder ungeschoren davon kommen lassen. Während David die Sixpacks Budweiser auf den Tisch stellt, schärft ABC-Frontmann Peter Jennings den Zuschauern noch einmal die Reihenfolge ein, um die es heute Abend geht: „Es dreht sich alles um Stil, aber auch Substanz.“ Debattenmoderator Jim Lehrer, ein Haudegen des öffentlichen Rundfunks in den USA, erklärt den Zuschauern die 32-seitigen Regeln, auf die sich die beiden Wahlkampfteams nach langem Tauziehen geeinigt hatten, wer wann zu welchem Thema wie lange reden darf. Und wenn sich einer nicht an die Spielregeln halte, gäbe es auch ein „back up buzzer system“, was so viel wie ein Warnsystem bedeutet.

Und dann geht es los. 16 Fragen. Jeweils zwei Minuten bleiben den Kontrahenten für ihre Antworten. Bei Nachfragen haben sie 30 Sekunden Zeit. Der Schlagabtausch ist heftig, auch wenn beide im Prinzip ihre bekannten Positionen wiederholen. Vor allem Bush greift auf seine Standardrhetorik zurück. Permanent versucht er seinen Gegner als wankelmütigen Opportunisten zu brandmarken, während Kerry ihm in der Irakfrage eine „kolossale Fehleinschätzung“ vorwirft. Doch wie Peter Jennings schon feststellte, ist dies alles zweitrangig, zu oft gehört, und versinkt daher im unendlichen Wortstrom.

Was im Gedächtnis bleibt sind Gesten, Mimik, Haltung und einige markante Reaktionen. Kerry unterstreicht seine Worte durch eine aufrechte Statur und benutzt seine Hände, um Aussagen mehr Nachdruck zu verleihen. Bush hingegen lehnt eingefallen am Rednerpult, blickt oft mürrisch mit zusammengekniffenen Lippen. „Er sah von Anfang an irgendwie verzweifelt aus“, sagt Noah. Auch Dan sieht ihn überwiegend in der Defensive.

Der sonst so fokussierte Bush spricht oft unstrukturiert, kommt in der erlaubten Redezeit nicht auf den Punkt und muss häufiger um Verlängerung bitten. Kerry dagegen hat offenbar von Bush gelernt, hält einen klaren Kurs und haut ihm so oft wie möglich den Namen Ussama Bin Laden um die Ohren. Joe frohlockt, schließlich vermeidet Bush auch heute den Namen des Terrorfürsten wie der Teufel das Weihwasser.

Irgendwann richtet der Moderator an Bush tatsächlich die Frage, ob Kerrys Charakter ihn nun für die Präsidentschaft auszeichne, so als ob diese direkt aus der Feder von dessen Chefstrategen Karl Rove stammt, und es noch nicht reicht, dass Bush in jeder Antwort – ob passend oder nicht – unterbringt, dass Kerry ein Mann sei, der „mixed signals“ sende, man aber als Präsident nicht wanken und weichen dürfe. Joe springt erregt vom Sofa auf, ruft: „Was für eine bizarre Debatte!“ und holt sich noch ein Bier.

Joe glaubt, dass die Medien sich längst auf die Seite von Bush geschlagen haben, erinnert daran, wie sie in der Irakfrage der Propaganda verfallen sind und wochenlang dubiosen Vietnamveteranen als Sprachrohr dienten, die nachweislich falsche Informationen verbreiteten, um Kerrys Glaubwürdigkeit zu untergraben. Jeder noch so meisterliche Auftritt Kerrys würde seiner Ansicht nach am Ende klein geredet.

Pünktlich nach 90 Minuten wird abgepfiffen. Heerscharen von TV-Analysten sezieren danach die Auftritte. Die Sofa-Analysten ebenso. „Kerry war überraschend gut“, sagt David, der anfangs etwas Unentschlossene im Raum. „Bush schien sich in seiner eigenen Haut unwohl zu fühlen“, meint Noah. „Kerry war gelassen, aggressiv und dennoch respektvoll“, beobachtete Dan.

Auf der Suche nach dem besonderen Augenblick wurde die Runde am ehesten bei Kerry fündig. Das Votum fiel auf den Moment, als er von Bush zum x-ten Male angegriffen wurde, seine Meinung zum Irakkrieg so oft wie das Hemd gewechselt zu haben. Kerry reagierte mit einem überraschenden Eingeständnis und scharfem Konter: „Ja, ich habe einen Fehler gemacht, in der Art wie ich über den Krieg geredet habe. Aber Sie, Herr Präsident, haben einen Fehler gemacht mit der Invasion im Irak. Welcher wiegt schwerer?“ Wetten werden abgeschlossen, wie die Blitzumfragen ausfallen mögen. 52 zu 48 Prozent für Kerry, sagt Gastgeber Joe vorsichtig. David fand Bush enttäuschend, glaubt jedoch nicht an einen Kerry-Sieg. Dann kommen die Zahlen. Verblüffte Gesichter blicken auf den Bildschirm. Kerry schlägt Bush auf ABC mit 43 zu 36 Prozent, auf CNN mit 46 zu 37 und CBS mit 44 zu 26 Prozent. Nein, Euphorie bricht keine aus. Doch Hoffnung keimt, dass das Rennen noch nicht verloren ist. Immerhin konnte Kandidat Kerry hier und heute zumindest den zaudernden David überzeugen.