Artikelzustand: mit Gebrauchsspuren

Für manche sind es nur drei Bahnen Stoff, vernäht auf fünf mal sieben Meter GrößeFür andere symbolisiert sie auf 35 Quadratmetern den Stolz der Nation

AUS BERLIN, HALLE UND AUGUSTDORF WALTRAUD SCHWAB

Wie sieht die typische Handbewegung einer Näherin, die Deutschlandfahnen fertigt, aus? „Ach Gott“, Angelika Niekler lacht und stützt ihre Hände auf die Hüften, „vielleicht so, wenn wir uns den Rücken halten.“ Mit den Fahnen ist es ein Kreuz.

Niekler arbeitet bei Mac Flag. Da werden Deutschlandfahnen genäht – schwarz-rot-goldene Stoffbahnen zusammengefügt zu einem fünf mal sieben Meter großen Tuch. Eine Fahne eben, sagen die einen. Für andere symbolisiert sie auf 35 Quadratmetern den Stolz der Nation. Es sind nicht irgendwelche Fahnen, die in der kleinen Berliner Fabrik produziert werden, sondern die, die oben auf der Kuppel des Reichstags wehen. Das macht sie dann doch wichtig. So sehr, dass eine von ihnen im Sommer Schlagzeilen machte. Sie wehte – so zumindest sahen es Boulevardmedien und ein paar Politiker – eine Zeit lang am falschen Ort.

In Hohenschönhausen beginnt die Reise der Fahne. Der Bezirk im Osten Berlins hat sein eigenes Flair. Eines, was besser nicht vornehm zu schreiben ist, lieber mit „ä“ wie in „Flär“. Die 14 Kilometer lange Landsberger Allee, die vom Zentrum durch den Bezirk direkt nach Brandenburg führt, wird von Hochhäusern gesäumt. Plattenbauten aus DDR-Zeiten sind es. Renoviert mittlerweile, an der Farbe liegt’s nicht. Mac Flag – sprich: Fläg – liegt auf halbem Weg im Industriegebiet.

„Finden tut uns niemand“, sagt Angelika Niekler und wischt sich ihre wasserstoffblond gefärbten Haare aus dem Gesicht. Trotzdem hat die kleine Firma, die fünf Mitarbeitern Lohn und Brot gibt, den Auftrag bekommen. Als der Bundestag nach Berlin umzog, wurde sie Alleinhersteller für die Deutschlandflaggen vom Reichstag. Weniger als 200 Euro bekommt Mac Flagg vom Staat pro Stück.

Mit rasender Geschwindigkeit werden die roten, schwarzen und goldenen Bahnen zugeschnitten. „Wir haben Routine, wir gehen uns zur Hand“, sagt Niekler. Die Bahnen sind groß und schwer. Eine der Frauen hält, während die andere sie zusammennäht. Die größte Schwierigkeit: Der Stoff ist so dick, dass er sich kaum durch die Maschine ziehen lässt. Ordentlich drücken müssen die Frauen, damit sie ihn durchkriegen. Am Ende haben sie es im Kreuz. Deutschlandfahne – mein täglich Brot!

So eine Fahne, aufgehängt an den zehn Zentimeter großen Karabinerhaken und der fingerdicken Leine, hält nicht lange oben an der Stange auf dem Reichstag, erzählen die Frauen. Der Wind, das Wetter setzen ihr zu. Vor allem am flatternden Ende, da wo die Kräfte freien Lauf haben, fransen sie aus. Spätestens nach drei Wochen ist eine Fahne verbraucht, wird gewechselt, ausgetauscht.

Bis vor einem Jahr haben das die Frauen von Mac Flag noch selbst gemacht: Alte Fahne runter, frische rauf. Berliner Freiheit haben sie gespürt, oben auf dem Dach des Parlaments. „Vor einem liegt die Stadt auf den Knien.“

Die Fahnen, die runter geholt werden, sind ausgefranste Deutschlandlappen. „Die stinken nach Benzin, nach Russ. Die sind unhandlich, dreckig und schwer.“ Die goldene Farbe hat sich in ein dunkles Gelbgrau verwandelt. Selbst wenn die Flagge repariert und gewaschen ist, wird das Gelb nie wieder so leuchten wie zuvor. Niekler zeigt auf so ein Second-Hand-Exemplar. Noch einmal wird es hoch gezogen. Zwei Wehperioden lang kann die Fahne oben auf den Türmen ihren Dienst tun. Im Regen. Im Sturm. In der abgasgeschwängerten Luft. Danach ist sie verbraucht.

Eine dieser abgenutzten Flaggen hat diesen Sommer in Deutschland noch mal Karriere gemacht. Sie landete sie auf der Website der Zollauktion; sollte Geld einspielen für den Staat; „Artikelzustand: mit Gebrauchsspuren“. Am Ende aber wurde sie zu einem symbolischen Fetzen Stoff, an dem sich ein paar Männer heiß rieben.

Eine Laune trieb Christine Schmittroth dazu, für die Fahne zu bieten. „Ein Publicity-Gag sollte es sein.“ Für 3.350 Euro bekam sie den Zuschlag. Kaum wusste sie von ihrem Ersteigerungsglück, läutete das Telefon. Es war der Boulevardpresse, die die Auktion verfolgte, nicht entgangen, dass die gebürtige Fränkin in Halle ein Bordell betreibt. „X-Carree“ heißt es. Unweit vom Bahnhof steht es, dort, wo die Straße ob der leer stehenden Häuser, der dunklen Unterführungen, der halbfertigen Neubauten am verlassensten ist. Großartig hätte die Fahne es zieren können.

Früher war Schmittroth Versicherungsmaklerin, spezialisiert auf „unerwünschte Risiken“. Bordelle etwa, hat sie versichert. So kam sie in Kontakt mit dem Milieu, wurde Teilhaberin, am Ende Besitzerin. Steuerschulden des Kompagnion spielten auf ihrem Weg zum Freudenhaus auch eine Rolle. „Früher stand man im Gewerbe mit einem Bein im Knast, wegen Begünstigung der Prostitution, seit der Legalisierung wegen angeblicher Unterschlagung von Steuern“, sagt sie.

Renovierungsbedürftig sind die mehrstöckigen Häuser an der Ecke der Delitzscher Straße. Erst nach und nach werden sie hergerichtet. Vom „X-Carree“ sind zwei Etagen fertig. Innen ist es rot beleuchtet, plüschig, fremd im Vertrauten. „Ich mache reine Zimmervermietung“, sagt Schmittroth. „Klar, faire Arbeitsbedingungen für die Frauen“, meint sie.

Auf den Etagen sitzen die Liebesdienerinnen leicht bekleidet vor den offenen Türen ihrer schummrigen Zimmer. Die Männer flanieren an ihnen vorbei, bleiben stehen, verhandeln über den Dienst. Begehren heißt hier Sex. Gefühl heißt hier Massage. Und Leidenschaft ist Arbeit. Werden sich zwei einig, verschwinden sie hinter der Tür. Das Schild wird auf „besetzt“ gedreht.

Sechs Wochen lang wehte die alte Flagge vom Reichstag auf dem Dach des Bordells. Als sie gehisst wurde, war die Presse versammelt. Doch über das, was dann kam, ist Christine Schmittroth noch immer empört.

„Die machen doch ’ne Arbeit wie alle anderen auch“, verteidigt sie die Prostituierten. „Die zahlen ihre Steuern. Ich meine, eine Altenpflegerin darf auch nicht zimperlich sein. Hier kommen Behinderte rein, welche im Rollstuhl, die wollen auch bedient werden. Die Arbeit ist schwer.“ Schmittroths Ton wird lauter. „Der ganze schlechte Ruf klebt an den Frauen. Dabei gäb’s ohne Nachfrage keine Prostitution.“

Das sehen die Saubermänner, die sich, kaum hing die Fahne auf dem Dach, empört meldeten, nicht so. „Der Stadtrat Kupke, der Markus Söder von der CSU und der von der FDP, wie hieß er?“ Ein Exdiplomat aus Baden-Baden sei persönlich vorbei gekommen, um ihr ins Gewissen zu reden. „Verunglimpfung eines Nationalsymbols behaupteten die“, sagt Schmittroth. Als wären Huren bloß Dreck, ein Bordell ein Dreckshaus und die Deutschlandfahne beschmutzt, wenn Prostituierte sie berühren? „Ich hab nachgeschaut im BGB. Niemand von uns hat die Fahne bespuckt oder draufgepinkelt, wie es da steht“, sagt Schmittroth.

Obwohl sie im Recht ist, reißt der Ärger nicht ab, denn die Boulevardpresse heizt die Stimmung weiter an. Schmittroth wird’s zu viel, auch wenn die Publicity die Freier zuhauf ins Haus führt. Sie gibt die Fahne auf E-Bay wieder zur Versteigerung frei. Der Erlös soll an den Kinderplanet e.V. gehen, eine Tageseinrichtung gegenüber dem Hallenser Klinikum, die krebskranke Kinder betreut und den Eltern preisgünstige Übernachtungsmöglichkeiten bietet. Die Versteigerung ist schon bei 17.000 Euro angekommen, da wird die Seite sabotiert.

An der Stelle kommt Berthold Dobbe ins Spiel. Eine Glasfabrik hat er in Augustdorf. Die hat bald 25-jähriges Jubiläum. Dem Unternehmer – Motorradfan, Taubenzüchter, Berlin-Liebhaber, Galeriebesucher, der aber, da Workoholic, zu solchen Dingen nicht kommt – gefällt die Idee mit der Fahne. In der Zeitung hat er von der Sabotage gelesen und dass die Versteigerung neu beginnt. Er will zum Firmenjubiläum was spenden für einen guten Zweck, gibt sein Höchstgebot ab und fährt nach Kroatien in Urlaub. Als er zurückkommt, gehört ihm die Fahne – für 16.050 Euro.

Augustdorf, im Landkreis Lippe, unweit von Bielefeld, ist kein wirkliches Dorf. Vielmehr ein verletztes Stück Heimat. Von den 10.000 Einwohnern sind 2.500 Aussiedler und 3.500 Soldaten. Mehr als die Hälfte des Gemeindegebiets ist deren Truppenübungsplatz. Vor allem in der Senne, einer von Gletschern hinterlassenen Sandregion, üben sie Krieg. Ein Die-und-die-und-wir prägt den Ort. Die Aussiedler haben schon vier Kirchen gebaut! Die Bundeswehr sperrt die Senne ab! Die Lipper sind geizig!

Dobbe steht drüber. Er ist Kaufmann, „da halt ich mich raus“. Als Händler müsse er mit vielen auskommen. „So viel Handel“, sagt er und zeigt bis zum Handgelenk, „ist besser, als so viel Arbeit“, er zeigt bis zum Ellenbogen. Das habe sein Vater schon immer gesagt. Die Firma des 62-Jährigen mitten im Industriegebiet, die Isolierglas, bruchsicheres, schallsicheres und schusssicheres Glas herstellt, läuft gut.

Etwa 120 Mitarbeiter hat Dobbe; 16 verschiedene Nationen seien darunter. Die schuften in der 12.000 Quadratmeter großen Halle. „Der Reichstag ist kaum größer.“ Darauf ist der Chef stolz. Es erkläre, warum die Fahne hierher passt. Eigentlich sollte sie am 3. Oktober oben auf dem gelb gestrichenen Verwaltungsgebäude gehisst werden. Aber wahrscheinlich klappt es nicht, weil sich die Lieferung des 12 Meter lange Fahnenmastes verzögert.

Dobbe will Flagge zeigen für den Standort Deutschland, sagt er. Deutschtümelig sei das nicht. Im Gegenteil. Auch die Meinung der Moralapostel teilt er mitnichten. Der Zwischenstopp auf dem Bordell habe die Fahne nicht entwertet, sondern beliebter gemacht. Vom Lob des Bundestagsabgeordneten, Jürgen Herrmann (CDU), „dem Wahrzeichen unserer Republik seine Würde zurück gegeben zu haben“, fühlt er sich nicht geschmeichelt. Auch Herrmanns Dank „für diese wahrhaft patriotische Tat“ perlt am stattlichen Chefs einfach ab. Für ihn gilt das Einfache: „Die Menschen sind’s doch, nicht die Fahne.“