Gebannter Blick nach Westen

Wieder soll die US-Konjunktur die Welt und damit die deutsche Ökonomie aus der Krise ziehen. Doch dieser Traktor gerät inzwischen leicht ins Stottern

von MATTHIAS URBACH

Als die Konjunkturexperten der sechs führenden Wirtschaftsinstitute auf ihrer zweiwöchigen Klausur in München über ihr Wirtschaftsprognose brüteten, war ihr Blick vor allem in die USA gerichtet. Von dort erwarten sie die entscheidenden Impulse, die auch unsere Volkswirtschaft kommendes Jahr zu einem bescheidenen Wachstum von 1,7 Prozent verhelfen könnte. Die deutschen Konjunkturexperten sind nicht die einzigen: Während die meisten Industrieländer noch in der Stagnation nach dem Platzen der Blütenträume vom Neuen Markt festhängen, rechnen die USA für das dritte Quartal bereits mit einem Wachstum von 5,5 Prozent. Um gut 4 Prozent, so hoffen die Experten des Internationalen Währungsfonds, konnte 2004 in Folge weltweit die Wirtschaft wachsen.

Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass die USA mit einer Politik zum weltweiten Wirtschaftsmotor wurden, die in Deutschlands politischer Debatte absolut tabu ist. Durch eine extrem ausgabenfreudige (im ökonomischen Jargon „expansiv“ genannte) Finanzpolitik kurbelt Präsident George W. Bush seine Konjunktur an: Da sind zunächst die üppigen Steuererleichterungen in Höhe von 350 Milliarden Dollar, während gleichzeitig die staatlichen Ausgaben enorm wachsen – allein für den Irakkrieg sind im nächsten Jahr weitere 87 Milliarden Dollar vorgesehen. Gleichzeitig hält die Notenbank die Zinsen niedrig. Das Land, das Bush mit einem Haushaltsüberschuss von 2 Prozent übernahm, hat heute ein Haushaltsdefizit von 3,5 Prozent.

Gustav-Adolf Horn vom Deutschen Institiut für Wirtschaftsforschung (DIW) lobte gestern Bushs Ansatz, wenn er auch kritisierte, dass die Steuerreform vor allem Reichen zugute kommt. Das war ökonomisch gemeint: Schließlich konsumieren arme Leute mehr und beleben so die Konjunktur stärker. Doch in dieser Frage ist die deutsche Ökonomen-Elite keinesfalls einig. Professor Joachim Scheide vom Institut für Weltwirtschaft (IfW) hält Bushs Politik für fiskalisch riskant. „Wenn er Steuern senken will, muss er die Ausgaben straffen.“ Folglich hält auch die eine Hälfte der Wirtschaftsinstitute, ifo, HWWA und IfW – angeführt von Scheide –, das Ansinnen der Bundesregierung, für das Vorziehen der Steuerreform ein paar Milliarden Euro Schulden zu machen, für grundfalsch, während Horns DIW und die zwei übrigen Institute IWH und RWI des Kanzlers Pläne gutheißen.

Anfang der Neunziger zogen die USA schon einmal die Welt aus der Stagnation. Getrieben durch den Glauben an ein Wachstum ohne Ende im Reich der neuen Technologien, der so genannten New Economy, stiegen die heimischen Ausgaben der Amerikaner doppelt so schnell wie im Rest der Welt: Die US-Bürger kauften im großen Stil Importprodukte und förderten so die Konjunktur im Ausland. Gerade das stark vom Export abhängige Deutschland profitierte: Für Exportschlager wie das Auto wurden die USA zu einem wichtigen Markt.

Die USA sind mit einem Anteil von über einem Drittel an der weltweiten Wirtschaft noch immer die größte Wirtschaftsmacht. Trotzdem war der US-Regierung schon in den Neunzigern etwas mulmig zumute. „Die Weltwirtschaft fliegt nur auf einem Triebwerk“, pflegte Lawrence Summers, Schatzmeister unter Präsident Bill Clinton, zu sagen. Während in den Neunzigern viele US-Unternehmen in der Computertechnik ihrerseits Exportschlager fertigten – und damit ihren Außenhandel einigermaßen im Gleichgewicht hielten –, leiden sie nun unter einem extremen Ungleichgewicht: Dieses Jahr kaufen die USA für knapp 500 Milliarden Dollar mehr im Ausland ein, als sie exportieren, das entspricht 5 Prozent der Wirtschaftsleistung. Für diese Summe muss sich das Land im Ausland extra verschulden.

Diese Entwicklung macht auch den deutschen Konjunkturforschern Sorgen. Wir haben „insgesamt ein ansprechendes Bild“, erläuterte gestern Oscar-Erich Kuntze vom ifo-Institut. „Aber in der Mitte des Gemäldes lauert eine Gefahr: das steigende Außenhandelsdefizit der USA.“ Die Erfahrung zeige, dass kein Land der Welt sich ein so hohes Defizit lange leisten könne, irgendwann „reiße der Film“, es komme zu einer starken Abwertung des Dollars. Da andere ihre Währungen derzeit durch Interventionen (Japan) beziehungsweise durch eine direkten Kopplung an den Dollar (China) schützen, könnte das Europa und vor allem Deutschland in die Rezession zerren: Immerhin verkauften wir im vorigen Jahr für 60 Milliarden Euro mehr Waren ins Ausland, als wir einführten. Wenn aber der Dollar sinkt und der Euro stark steigt, werden unsere Produkte auf dem Weltmarkt zu teuer.

Überhaupt sind die Konjunkturforscher von den sechs Instituten HWWA, DIW, ifo, IfW, IWH und RWI eher optimistisch an ihre Prognose herangegangen. Sie gehen davon aus, dass der Dollar nicht im Wert sinkt, der Rohölpreis stabil bleibt und Asien als Erstes aufholt, um dann im zweiten Halbjahr 2004 die Euroländer mitzuziehen. Kein neuer Sars-Erreger, kein großer Terroranschlag, keine Eskalation in Irak, Nordkorea oder Nahost. Reichlich viel Zuversicht, um der Prognose Vertrauen zu schenken.