2. OKTOBER 2004
: Der Anfang eines neuen Deutschlands

Das ist so vorhersehbar wie vorbestimmt: Wenn die offizielle Staatspolitik in Erfurt schöne Reden hält auf dieses schöne Land, wird in Berlin die Politik der Straße aktuelle dunkle Ecken wie Hartz VI ausleuchten. In Berlin: „Wir sind das Volk“ – „Wir sind ein Volk“ in Erfurt. Man geht sich aus dem Weg.

KOMMENTARVON NICK REIMER

Dabei berufen sich beide auf jene wunderbare Geschichte, die just vor 15 Jahren hinterm Stacheldraht begann. Müßig zu debattieren, was anders geworden wäre, wenn die Wende nicht am 3. Oktober 1990 geendet hätte, wenn sie nicht so geendet hätte. Müßig zu ergründen, wer wann welche Fehler zu verantworten hat. Die Philosophen haben die Welt nur unterschiedlich interpretiert. Es kommt drauf an, sie zu verändern.

Wenn man den Deutschen etwas wünschen sollte, zu diesem, ihrem Feiertag, dann dies: den Reflex zu unterdrücken, jedes Problem der Gegenwart als Müll im Gestern abzukippen. Montagsdemonstranten gegen Hartz sind Montagsdemonstranten gegen Hartz und nicht undankbare Ostdeutsche, die dem Westen nach 14 Jahren endlich ihre Meinung geigen wollen. Arbeitslose haben mehr als nur ein biografisches Problem. Und Neonazis sind weder ein Produkt von Margot Honeckers Volksverblödungssystem noch lascher 68er-Erziehung. Gewiss: Der Blick zurück ist wichtig. Denn wer vergisst, woher er kommt, dem wird diktiert, woher er kommen soll. Dennoch ist dieser Blick allein untauglich, Realität im Jahre 14 der Deutschen Einheit zu beschreiben. Wir haben allen Grund, denen dankbar zu sein, die einst Mut und Geduld aufbrachten, die abnormalste Mauer dieser Welt zu schleifen. Doch jetzt gilt es, nach neuen Ideen zu suchen.

Auch der Westen muss sich endlich eingestehen: Nicht nur die alte DDR, auch die alte Bundesrepublik ist tot. Eingerichtet mit Wirtschaftswunder, Sozialsystemen, ostentativer Friedfertigkeit und gesünderer Umwelt – der Glaube an die konsensualen Werte dieser Bundesrepublik liegt noch immer wie Mehltau über diesem Land. Was den Deutschen aus dem Osten seit 14 Jahren abverlangt wird, haben die Deutschen des Westens noch vor sich: den endgültigen Abschied von der eigenen Wohlstandslüge. Wie schwer das werden wird, kann man jenseits der Elbe wunderbar studieren. So leichtfüßig heute das Hinwegfegen des SED-Regimes erscheint, so schwer lasten noch heute die Wertvorstellungen der DDR auf den Menschen Ostdeutschlands.

Willkommen im neuen Deutschland! Wer das für sich entdeckt, kann Ärmel hochkrempeln. Wer dagegen sentimental das Loblied der Vergangenheit anstimmt, muss an der Gegenwart verzagen. Wir brauchen Visionen für die Zukunft – viel mehr jedenfalls als eine Analyse der je unterschiedlichen Vergangenheiten. Warum denn nicht den Unterschied der Biografien als produktives Kapital begreifen? Wenn es stimmt, dass die kategorischen Entweder-oder-Fragen nichts mehr taugen, wenn es stimmt, dass die Schwarz-Weiß-Malerei Realität nicht mehr beschreiben kann, dann sollte das Ost-oder-West auch kein Thema mehr sein. Höchstens eines, das uns eint.