herr tietz macht einen weiten einwurf
: Boxen für Kinder

FRITZ TIETZ über fleischwundige Faustkämpfe und ihre möglichen Spätfolgen

Fritz Tietz ist 44 Jahre alt, lebt als Nachfahre ostpreußischer Einwanderer in der Nordheide und treibt gelegentlich Sport.

Früher musste, wer Boxkämpfe im Fernsehen sehen wollte, mitten in der Nacht aufstehen. Die legendären Hauereien zwischen Muhammad Ali und Joe Frazier beispielsweise fanden in aller Regel zwischen drei und fünf Uhr morgens statt. Auch ich wollte diesen Kämpfen – Kindskopf, der auch ich damals war – unbedingt live vor der Flimmerkiste beiwohnen. Und fand das jedes Mal verdammt brutal. Nicht das Geboxe, sondern das zeitige Aufstehen.

Heute muss kein Kind mehr für einen Boxkampf derart unmenschlich früh aus den Federn. Heute kann es sich nämlich Boxkämpfe, auch wenn es das gar nicht will, im Tagsüber-Programm von ARD oder ZDF ansehen. Zwar nicht gerade im ausgewiesenen Kinderprogramm, aber doch zu jenen Zeiten, in denen die dann üblicherweise zahlreich vor den Bildschirmen der Republik geparkten Knirpse fleißig durch die TV-Kanäle zappen und demzufolge auch schon mal mit dem übel zerschundenen Gesicht eines Boxers konfrontiert werden können, das zumindest partienweise in blutverschmierten Fetzen hängt. So etwas aber ist nach einhelliger Experten-Einschätzung nicht gerade das, was Kinder im Fernsehen sehen sollten.

Tatsächlich gerieten einige der jüngst übertragenen Faustkämpfe insgesamt so fleischwundig, dass selbst ältere und somit abgebrühtere Fernsehzuschauer nicht ständig hingucken wollten. Bildschirmfüllend klafften da die Hautrisse in den von beulenden Hämatomen aufgequollenen Boxervisagen, von denen ja manche schon im unversehrten Zustand keinen besonders netten oder gar nur erträglichen Anblick bieten. Fett troff jetzt noch dazu das Blut über die misshandelten Gesichter der Herren Klitschko, Häußler oder Michalzcewski; selbst der Ringrichter ward am Ende vom Blut des Tigers besudelt.

Zwar finden auch diese Live-Übertragungen zu Tageszeiten statt, die nicht zu den gewöhnlichen Kinder-Fernsehzeiten zählen. Allerdings werden Aufzeichnungen der Kämpfe anderntags und zumindest ausschnittweise (und dann gern auch mit den brutalsten Treffern in Zeitlupe) in diversen Nachmittags- oder Vorabendmagazinen wiederholt, wo sie theoretisch – und damit auch praktisch – auch von Kindern konsumiert werden. Besorgte Eltern meinen deshalb, dass die Boxerei heutzutage zu brutal sei, als dass man sie ungeschützt im Nachmittagsprogramm zeigen dürfe. Die Sender indes rechtfertigen ihre nachmittäglichen Boxberichte mit ihrer angeblich unerlässlichen Informationspflicht.

Selbige Informationspflicht war’s übrigens auch, die seinerzeit den Norddeutschen Rundfunk veranlasste, zur besten Sesamstraßen-Zeit live von der ICE-Katastrophe bei Eschede zu berichten. Ohne bis dahin etwas von dem Unglück mitbekommen zu haben, hatte ich meiner damals vierjährigen Tochter erlaubt, zum Sendungsbeginn um 18 Uhr den Fernseher einzuschalten. Ich ging derweil anderweitigen Beschäftigungen im Haushalt nach. Nach einer halben Stunde vermeintlicher Sesamstraßenzeit zzgl. Sandmännchen befahl ich der Tochter, ihr aus der Küche zurufend, das Fernsehgerät jetzt wieder abzustellen. Worauf sie heftig protestierte. Sesamstraße sei heute viel toller als sonst und längst noch nicht zu Ende. Auch wolle sie unbedingt sehen, wie der kaputte ICE wieder heile gemacht werde. Erst da gewahrte ich, dass das Kind die ganze Zeit heftigstes Katastrophenfernsehen guckte. Und auch noch schwer begeistert davon war.

„Schau hin, was deine Kinder machen!“ heißt eine unlängst von ARD und ZDF mit initiierte „Aktion für mehr Erziehungsverantwortung im Umgang mit den elektronischen Medien“. Also habe ich heute meine mittlerweile zehnjährige Tochter gefragt, ob sie etwa schon mal einen Boxkampf im Fernsehen geschaut habe, was sie entrüstet verneinte – und zwar mit den durchaus wahren Worten: „Ich durfte ja nie!“ Somit ist ihr wohl diese Brutalität bisher erspart geblieben. Wie übrigens auch die des frühen Aufstehens.

Dabei hatte sie sich neulich extra den Wecker gestellt, um den für halb acht morgens (!) angesetzten Start des letzten Formel-1-Rennens im fernen Japan nicht zu verpassen – und verschlafen.