PETER UNFRIED über CHARTS
: Musik, die die Welt nicht mehr braucht

Tagebuch eines Vierzigjährigen: Warum ich heute nicht losgehe und Brian Wilsons „Smile“ kaufe

Mein erster Tagebucheintrag in dieser Sache ist datiert vom 3. Oktober 1967. Ich war drei. Ein Seufzer mit Ausrufezeichen: „Ach wenn doch Smile erscheinen würde!“ Es ist in der Folge ein Leben vergangen, aber kein Tag, an dem sich nicht ein ähnlicher Eintrag findet. 7. Juli 1974: „Wir sind Weltmeister. Jetzt fehlt nur noch Smile!“ 9. November 1989: „Alles mögliche passiert , aber Smile ist immer noch nicht erschienen. Schweinerei!“

Ach, Smile!

– Kurzer Einschub: „Smile“, liebe Nachgeborene, ist jenes von Brian Wilson komponierte Beach-Boys-Album, das 1967 (dem Jahr des Sommers der Liebe) aus nie genau geklärten Umständen nicht erschien. Das Album, das die Beatles zu Zwergen machen sollte. Die Musik, die die Welt hätte retten können. Doch dann wurde Wilson verrückt bzw. die Band bzw. die Plattenfirma – und das unveröffentlichte „Smile“ in der Folge der größte Mythos, den der zeitgenössische Pop geschaffen hat. Größer als Mozart und die Requiem-Story. Größer als das Turiner Tuch. Größer als das dritte Tor von Wembley.

In den ersten Jahren steht die Sehnsucht in meinem Tagebuch gleichberechtigt neben: „Ach wenn doch Adam zu Pa und Joe zurückkäme. Ach wenn doch Gerd Müller sprechen könnte!“ In den späten 70ern neben: „Ach wenn doch nicht alle Menschen Annette hießen!“ Zuletzt koexistierte sie mit: „Ach wenn doch Pamela Andersons Schauspielkunst, Claudia Roth und das Dosenpfand jene Anerkennung fänden, die sie verdienen!“ Am heutigen Montag, mit über 37 Jahren Verspätung, erscheint „Smile“. Endlich. Aber ich werde das Album nicht mehr kaufen. Niemals.

Es ist gerade eine Geschichte passiert, unter deren Eindruck ich beim Schreiben dieser Zeilen stehe. Folgendes: Sie war meine erste große Liebe. 24 Jahre hatten wir uns nicht mehr gesehen. Wir redeten. Wir tranken. Ich goss ihr Drinks ins Dekolleté. Wir wurden nachdenklich. Und dann machte sie mir das Angebot, dort wieder „anzufangen“, wo wir „damals am See“ aufgehört hätten.

Damals am See, oh yeah. Eine 16-Jährige. Ein 16-Jähriger. Wir waren unschuldig. Wir waren zwei. Es war Herbst und unser erster Sommer der Liebe. Dagegen hatte auch die Kälte des Sees keine Chance. Selbstverständlich saß ich später jahrelang allein in meinem Zimmer und habe darüber nachgedacht, was passiert wäre, wenn es nach „damals am See“ anders gelaufen wäre. In aller Bescheidenheit: Wir waren ja nichts weniger als eine Teenager-Sinfonie an Gott.

Also, um es kurz zu machen. Man kann selbstverständlich heute „Smile“ kaufen. Oder es sich von einer alten Liebe besorgen lassen. Aber es bringt nichts. Wenn schon, sollte man es nicht als verklärtes Retro-Projekt anlegen und nicht mit unrealistischen Ansprüchen überfrachten. Der Wunsch zurückgehen zu können, wieder unschuldig zu sein: ist verständlich, aber letztlich vergeudete Zeit. Er signalisiert Aufgabe – Eskapismus durch Historisierung.

1980 ist nicht rückholbar. Und 1967 auch nicht. Schon gar nicht für Menschen, die „Smile“ 1967 gar nie vermisst haben. „Damals am See“ ist die große Liebe, die nicht blieb. Und „Smile“ ist das große Album, das nie veröffentlich wurde. Besser geht das nicht.

Übrigens: Das ebenfalls 1967 erschienene Beatles-Album „Sgt. Peppers“, wie auch der „Smile“-Vorläufer „Pet Sounds“, werden ja regelmäßig und abwechselnd als größte erschienene 33er ausgezeichnet (neben „Exile on Main Street“), weil sie die Grenzen des Pop sprengten bzw. neu definierten: Es gibt auch gute – und nachzuhörende – Gründe, beide Alben auch als prätentiöse Kunstimitate zu sehen.

Das verstärkt meine Sorge, dass „Smile“ die große Sehnsuchtsmelodie im Leben einiger Menschen sein könnte – die noch ärmere Irre sind, als Wilson selbst einer ist. Nein, wenn man sein Leben nicht meistert, nimmt man nicht einfach Unmengen von Drogen, schmeißt Sand in sein Arbeitszimmer – und wird dadurch ein heiliges Genie. Ich habe das kapiert, und das hat mein Leben sehr vorangebracht. Wenn jetzt noch Adam auf die Ponderosa zurückkäme, wäre alles perfekt.

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