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Archiv-Artikel

Wir sind das Volk – auf der Couch!

Seit die Psychologen bei den Krankenkassen zugelassen sind, hat sich ihre Arbeitsrealität verändert: Früher kamen nur wohlhabende Patienten. Jetzt sind sie mit Sorgen aller Gesellschaftsschichten beschäftigt

Über ihren ersten „Hartz-IV-Patienten“ sagt die Psychologin: „Es geht bei ihm darum, zu sehen, was ist – und darauf reagieren zu können, und nicht, dass er sein innerer Feind ist.“

VON HELMUT HÖGE

Mit der Kassenzulassung von Psychologen hat sich ihr Patientenstamm verändert: Waren es früher eher gut verdienende, dafür aber auch gut motivierte Privatleider bzw. -zahler, die meist auf Empfehlung kamen, kommen nun immer mehr Kassenpatienten – und auch bereits die ersten „Hartz-IV-Geschädigten“ – in die Praxis. Damit aber auch „passivere Patienten“, die sagen: „Nun mach das mal weg!“

Die Tiefenpsychologin und Shiatsu-Therapeutin Helgard Passow hat 25 bis 30 Patienten in der Woche, also sechs bis acht pro Tag. Nach einer fünfstündigen Probesitzung erstellt sie ein Gutachten, anhand dessen ein anderer Gutachter entscheidet, ob der Patient eine Langzeit- (80–100 Stunden) oder eine Kurzzeit-Therapie (25 Stunden) bewilligt bekommt. Die Fälle werden ihr nicht nur von Ärzten überwiesen, sie kommen auch über das Kinder- und Jugendhilfe-Gesetz (KJHG). Dabei handelt es sich oft um Missbrauchsfälle.

Eine 24-Jährige fühlte sich zum Beispiel immer minderwertig, „sie konnte überhaupt nicht dran denken, was sie interessiert – beruflich“. Jetzt hat sie eine Lehre geschafft, „hat zwar immer noch Minderwertigkeitsgefühle, kann damit aber umgehen, erkennt sie“. Eine Mutter von fünf Kindern kam mit einer Postschwangerschaftsdepression, sie hatte starke Migräne und nahm Antidepressiva, „konnte keinen Bezug zu ihrem jüngsten Kind aufnehmen und wurde immer autistischer. Bei mir ließ sie alles über sich ergehen, während ihr Mann ununterbrochen redete. Die Migräne verschwand nach kurzer Körperbehandlung. Und sie wurde auch wieder lebendig, zur Behandlung bringt sie immer einige Kinder mit.“ Über ihren ersten „Hartz-IV-Patienten“ sagt die Psychologin: „Es geht bei ihm darum, zu sehen, was ist – und darauf reagieren zu können, und nicht, dass er sein innerer Feind ist. Die Symptome achten – was wollen sie ihm sagen? Die Schwächen nutzen.“

Um das bewirken zu können, muss die Psychologin, so sagt sie, vor allem „authentisch“ sein. Ein Langzeitpatient mit Alkoholproblemen konnte nicht allein leben, von seiner Frau getrennt, deswegen kam er in die Praxis. „Alkohol war nie das Thema, es war die Art der Kommunikation, der Humor.“ Der Mann, ein Wissenschaftler, sagte es so: „Schwer zu beschreiben, was eigentlich wirkte bei mir.“ Die Psychologin fügt hinzu: „Ich habe wenig Körperarbeit gemacht, wenn, dann nur, weil er vom Tennis so verspannt war. Es geht um die Ich-Du-Beziehung dabei.“ Und in jedem Fall darum, „den Menschen da zu erreichen, wo er sich selbst am nächsten ist. Das kann man spüren: Will derjenige mit Sprache oder mit den Händen berührt werden, auch, wo er nicht berührt werden will. Dadurch, dass man das erkennt, kommt er sich näher. Ich will den anderen gar nicht verändern, das geschieht ganz von selbst.“

Einmal wurde ihr aus einer Alkoholikerklinik ein Patient überwiesen: Ein mecklenburgischer Bauarbeiter und Rebell, der seit 1996 arbeitslos war bzw. immer schwarz gearbeitet hatte, aber meistens beschissen worden war, dann war er bei den Neonazis, ein Anführer, kam in den Knast und trank immer mehr. Er hat zwei uneheliche Töchter und ein am Vater orientiertes Vorbild, das hat er aber nicht durchgehalten und wurde immer aggressiver, rastete aus. „Er war ein Jahr bei mir, kam immer besser mit sich klar, konnte allein sein. Es ist wichtig, dass man sich ganz fühlt, auch wenn man allein ist. Lebendig ist, sich sammeln und dann nach draußen in die Welt gehen! Wobei es eher männlich ist, sich zu erhöhen – und weiblich, sich kleiner zu machen.“

Aufgrund der Kassenzulassung ist ihre Patientenschaft nicht mehr so homogen wie früher. „Früher hatte ich viele Schwangere zu begleiten und Säuglinge oder junge Familien mit Kind, aber seit der Zulassung bin ich davon weg.“ Neben dem rechten Ostler kommen nun auch Leute, die in der DDR gelitten haben: Einer lebt in einer betreuten WG für politisch Verfolgte: „Er hat nur nach unten gekuckt – war verhalten aggressiv, aber hoffnungslos, hatte nur Forderungen an die neue Gesellschaft – passiv, verstand die ganzen komplizierten Formen und Procedere hier aber nicht, konnte seine Forderungen gar nicht richtig artikulieren und wurde deswegen aggressiv.“ Das hat sich langsam gebessert. Auch mit alten Leuten ist viel möglich: „Ich hatte eine Siebzigjährige nach einem Herzinfarkt und dann auch die Tochter als Patientin: Da waren die Probleme von Generation zu Generation weitergegeben worden – die Mutter hat die Ängste an die Tochter weitergereicht. Heute werden immer mehr Ängste produziert. Aber die Angst entwickelt sich schon da, ob du gewollt warst oder nicht. Die Angst vor Gefühlen. Bereits am Anfang entwickeln sich die Themen fürs Leben.“ Helgard Passow spielt hier auf die psychoanalytischen Erkenntnisse von Eva Reich an, bei der sie ausgebildet wurde, ihre Shiatsu-Kenntnisse erwarb sie bei A. Kishi, einen Workshop kündigte sie einmal folgendermaßen an: Im Kurs geht es darum, „die Angst vor der Angst zu nehmen, die Leere für sich zu nützen, ‚gemütlich‘ mit sich zu sein“. Sie ist der Meinung, dass jeder ein „Recht auf Glück“ hat. Die jetzige Arbeitssituation der Psychologen stellt sich ihr in diesem Zusammenhang so dar: „Man muss schon ein richtiges Problem mit Krankheitswert haben, um als therapiebedürftig anerkannt zu werden. Für die Prävention wird immer weniger getan.“

Dazu zählt sie nicht zuletzt auch die Montagsdemonstrationen „Hartz muss weg!“, die damit eine kollektive Selbsttherapie gegen eine neue Art von Angstproduktion wären – so oder so.