die beschneidung meines bruders von HARTMUT EL KURDI
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Um es gleich vorneweg zu sagen: Bei mir ist noch alles dran. Offensichtlich hatte sich mein arabischer Vater gegenüber meiner deutschen Mutter in der Beschneidungsfrage nicht durchsetzen können. Im Fall meines älteren, untenrum zunächst ebenfalls komplett gebliebenen Bruders wurde das Genital-Ritual jedoch Jahre später nachgeholt, als schrullige pädagogische Maßnahme sozusagen.

Mein Bruder wuchs nach der Familienteilung, anders als ich, beim inzwischen nach England verzogenen Herrn Papa auf. Dort in Windsor entdeckte er in der Spätpubertät, mit sechzehnsiebzehn die Freuden des Bohemien-Lebens und begann seinen Tagesablauf streng nach den Regeln des exzessiven Müßiggangs zu organisieren: morgens den Schulgang simulieren, sich stattdessen mit anderen Taugenichtsen treffen, Drogen einatmen, Led-Zeppelin-Platten hören, dann doch mal in die Schule schlurfen, zwei, drei Lehrer anpöbeln, wieder zurück ins Hippie-Versteck und sich ausruhen. Abends auch gern mal Cider-Missbrauch und sich von der Polizei beim illegalen Autoführen aufgreifen lassen. So ungefähr.

Mein Vater, ein pensionierter jordanischer Brigadegeneral, stieß trotz seines autoritären Charakters und eines beneidenswert archaischen Jähzorns immer öfter an die Grenzen seiner schwarzpädagogischen Möglichkeiten und beschloss daher, die mühselige Erziehungsarbeit fortan der dafür seiner Ansicht nach optimal qualifizierten Institution zu überlassen: Er schickte meinen Bruder nach Jordanien und ließ ihn dort in die Armee stecken.

Ein Bruder meines Vaters, der einsah, dass man einen des Arabischen unkundigen, englisch sozialisierten Junghippie nicht einfach in eine jordanische Kampfeinheit verpflanzen kann, ohne mit schlimmsten Konsequenzen rechnen zu müssen, holte meinen Bruder aus der Kaserne und versteckte ihn in seinem Haus in Amman. Nun begannen Wochen des zähen Verhandelns. Mein Vater bestand auf der Ableistung des Militärdienstes, in der Hoffnung, dass mein Bruder dadurch eine tiefe und lebenslange Liebe zu den international praktizierten Militärtugenden Ordnung, Disziplin und Sadomasochismus entwickeln würde. Mein Bruder hingegen wollte selbstverständlich sofort nach England zurück und versprach dafür immerhin, den Versuch einer Verhaltensbesserung zu unternehmen. Täglich wurde von Amman nach Windsor telefoniert, weitere Familienmitglieder wurden eingeschaltet und in großer Runde Kompromissvorschläge erarbeitet. Währenddessen saß das Objekt der Verhandlungen im – laut Aussagen meines Bruders – komplett mit Playboy-Centerfolds tapezierten Hobbyraum meines Onkels und übte „Whole lotta love“ und schlimmerweise auch „Stairway to heaven“ auf seiner unverstärkten E-Gitarre.

Irgendwann waren die diplomatischen Zirkel dann so weit und legten das kuriose, sinnfreie Arbeitsergebnis auf den Tisch: Mein Bruder dürfe wieder nach England, wenn er dafür seine Vorhaut in Amman zurückließe.

Der Delinquent dachte nicht lange nach. Und seitdem kann mein Bruder, ohne mit der Wimper zu zucken, behaupten: Ein Teil von mir wird immer in Jordanien zu Hause sein …