Kritik statt Selbstkritik

Herbert Wehner hat während seiner Zeit in Moskau manche Genossen verraten. Das kann Reinhard Müller gut belegen. Sein Versuch, Wehner die Wandlung zum Demokraten abzusprechen, scheitert

VON CHRISTIAN SEMLER

„Anhänger und Gegner Robespierres, sagt uns um der Barmherzigkeit willen ganz einfach, wer Robespierre gewesen ist.“ In diesen Stoßseufzer des großen französischen Historikers Marc Bloch möchte jeder einstimmen, der sich je mit Herbert Wehner beschäftigt hat. „Kontrovers“ ist wohl ein reichlich mattes Wort, um die Wertung eines politischen Menschen zu charakterisieren, der als Anarchist begann, es in der KPD zur Zeit des Naziregimes bis in den Führungskader brachte, um schließlich, zusammen mit Willy Brandt und Helmut Schmidt, als Dreigestirn über dem sozialdemokratischen Himmel der Bundesrepublik zu leuchten.

Zeit seines politischen Wirkens verbreitete er unter den Weggenossen in gleichem Maße Zutrauen und Schrecken. Ein verschlossener Typ, schweigsam, dann aber zu eruptiven Ausbrüchen gegenüber Freund und Feind neigend; eiskalt in Machtfragen, mitfühlend angesichts menschlicher Leiden. Er war mit einem unglaublichen Gedächtnis für „personenbezogene Daten“ begabt. Als grausame Ironie erscheint es, dass ausgerechnet er sich am Schluss seines Lebens an nichts mehr erinnern konnte.

Kurz nach seinem Tod, in den 90er-Jahren, brach eine Auseinandersetzung über das Maß an Verantwortung aus, das er für Verfolgungsmaßnahmen gegen emigrierte deutsche Kommunisten zu tragen habe. Anlass war die Veröffentlichung von Dokumenten aus Wehners Moskauer Zeit während des „großen Terrors“ von 1936 bis 1939.

Dieser Streit erfuhr eine aktuelle politische Zuspitzung, als zudem bekannt wurde, in welchem Umfang Wehner an Brandt vorbei mit seinem ehemaligen Zögling Erich Honecker verhandelt und mit welch abfälligen Worten er sich in Ostberlin und Moskau über seine sozialdemokratischen Genossen geäußert hatte. Wehner ein IM h.c.? Dieser Verdacht fiel schnell in sich zusammen. Geblieben ist die bohrende Frage, ob es in Wehners Denken, in seiner Persönlichkeit Konstanten gab, die sein kommunistisches mit seinem sozialdemokratischen Leben verbanden. Wie also war und wie handelte er als Kommunist?

Um die Beantwortung dieser Frage hat sich Reinhard Müller, Stalinismus-Experte des Hamburger Instituts für Sozialforschung, in den vergangenen zehn Jahren Verdienste erworben. Beginnend mit „Die Akte Wehner“ (1993) bis zu dem gerade erschienen Werk „Herbert Wehner, Moskau 1937“ hat Müller die Moskauer Karriere seines Protagonisten verfolgt. Wie schon in „Die Akte Wehner“ hat er auch in seinem neuen Buch im Anhang die wichtigsten Dokumente publiziert, die seine Analyse stützen sollen. Zum Teil hat er sie selbst zutage gefördert hat. Seine Argumentation lässt sich dank dieses Anhangs hervorragend nachvollziehen.

Müller hat es sich zur Aufgabe gemacht, Wehners autobiografische „Notizen“ von 1944 als Lügenmärchen zu entlarven. Diese Notizen entwerfen in eindrucksvoller Weise die Geschichte eines selbstlos der kommunistischen Sache hingegebenen Revolutionärs, der in Moskau ins Räderwerk der Verfolgungsmaschine gerät und diesem nur knapp entkommt. Es ist die Erzählung eines Täters, der zum Opfer wurde, der mit den Wölfen heulte, seine Zweifel unterdrückte, bis er schließlich in Schweden verhaftet wurde – was ihm kurioserweise erst das Tor zur Freiheit aufstieß. Niedergeschrieben hat Wehner die Notizen unter dem Titel „Selbstbesinnung und Selbstkritik“ noch während seiner Zeit im Gefängnis.

Die Pointe von Müllers Forschung ist: Herbert Wehner hat sich diese Opferrolle nachträglich angemaßt. Die berüchtigte Geheimdienstzentrale „Lubjanka“ habe er nicht als Beschuldigter betreten, sondern als Experte für die „rechten“ wie „ultralinken“ Abweichungen in der KPD. Wehners Expertisen – etwa im Februar 1937 über „die Wühlarbeit der Trotzkisten“ (Dokument 4) – versorgten den sowjetischen Geheimdienst mit Informationen, die er nicht oder nur lückenhaft hatte. Als zentrales Beweisstück präsentiert Müller hier den kurze Zeit später verfassten Direktivbrief des NKWD-Chefs Nikolai Jeschow (Dokument 7). Auf dessen Basis wurden erneute Verfolgungsmaßnahmen gegen die deutschen Kommunisten ergriffen. Jakowlews Brief vergleicht Müller systematisch mit Wehners Experise.

Natürlich, es bleibt richtig, was der Wehner-Biograf Hartmut Soell behauptet: Das machtlose Häuflein führender deutscher Kader in Moskau hatte es nie und nimmer in der Hand, Verfolgungsmaßnahmen der Sowjets zu initiieren oder gar zu verhindern. Aber nützliche Dienste konnten es schon leisten. Besonders Wehners Übersichten über tatsächliche oder behauptete Querverbindungen zwischen trotzkistischen, linkssozialistischen und rechten kommunistischen Gruppierungen können sich für die sowjetischen Organe als hilfreich erwiesen haben, um ihre paranoide Vorstellung des „Blocks der Rechten und Trotzkisten“ zu nähren.

Zu revidieren wäre auch Wehners spätere Behauptung, ihm sei es lediglich darum gegangen, im Rahmen der KPD Fehler zu korrigieren, unfähige oder korrupte Kader abzulösen und unklare Sachverhalte aufzuklären – etwa anlässlich der Verhaftung Thälmanns. Wenn es um Namen gegangen sei, so Wehner stets, dann nur um Kader, die ihn mit erfundenen Beschuldigungen vernichten wollten. Müller macht darauf aufmerksam, dass es zwischen den Kaderbeurteilungen der KPD-Kaderabteilung, denen des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale und den sowjetischen Organen kurze Leitungen gab. Das ist nicht neu, aber trotzdem richtig.

Müller hat seiner Arbeit allerdings keinen Gefallen damit getan, dass er mit einer Flut psychologisierender Adjektive Wehner weniger charakterisiert als aburteilt. Wenig überzeugend ist auch sein Versuch, nicht nur die Opferrolle Wehners zu dekonstruieren, sondern ihm auch den inneren Wandlungsprozess abzusprechen, der letztlich zur Abfassung der „Notizen“ in Schweden führte. Wenn Wehner bloß ein Karrierist, Taktiker und Weißwäscher gewesen ist, warum hat er dann die sichere Karriere ausgeschlagen, die ihm als kommunistischer Funktionär im Nachkriegsdeutschland sicher gewesen wäre? Aber das sind Fragen, die Akten aus den Dreißigerjahren nicht beantworten, sondern nur der Blick auf Wehners gesamtes Leben.

Reinhard Müller: „Herbert Wehner, Moskau 1937“. Hamburger Edition, Hamburg 2004. 570 Seiten, 35 Euro