Der Feldforscher

Wie aus einem x-beliebigen Autor ein Joachim Lottmann wurde und warum man den echten Joachim Lottmann auch schon mal für einen tragikomischen Tom Kummer halten kann. Ein Treffen mit dem Wartburgfahrer und selbst ernannten Erfinder der Popliteratur im Berliner Stadtteil Friedrichshain

Lottmann sein geht so: Man trägt einen sackigen Anzug, in dem man ein Leben lang aussieht wie 48Der Roman sei reine Feldforschung, die „Jugend von heute“ ein fremder, unbekannter Stamm

VON CORNELIUS TITTEL

Lottmann lügt, hatte es geheißen. Mindestens irre sei er, falsch und verschlagen. Ein ewiger Lächler, der nicht die kleinste Wahrheit kennt, zum Fürchten freundlich und – ganz unter uns – nicht mal ein guter Schriftsteller. Einer, der seine Freunde zum Geburtstag lädt und vorher die Wohnung verlässt – Goebbelsrede auf dem Plattenspieler, Getränke auf Eis, alles da, nur der Gastgeber nicht. Einer, der Reportagen aus Klagenfurt schreibt, ohne vor Ort zu sein, der so lange sein nächstes Buch ankündigt, bis er es selbst als „inzwischen legendär“ bezeichnet. Legendär wie sein Ruf, mit „Mai, Juni, Juli“ die deutsche Popliteratur erfunden zu haben, Mitte der Achtzigerjahre in Köln.

Derart unvorbelastet sitzt man dann da, den „neuen Lottmann“ auf den Knien und die Berliner Kälte im Rücken. Warten auf des Wahnsinns treuesten Diener. Plötzlich ist er da, ganz dicht vor einem, auf der leeren Terrasse eines Friedrichshainer Restaurants. Man hat ihn nicht kommen sehen, ist kurz erschrocken und bekommt zur Beruhigung Geschenke. Eine weiße Rose wird gereicht, gleich danach eine Kopie von „Deutsche Einheit“, seinem letzten Roman. Und ehe man Danke stammeln kann, schlägt Lottmann das Buch auf und hält es einem ins Gesicht. „Eine Widmung“, sagt er. „So bist du gleich korrumpiert.“

„Meinem guten alten Sandkastenfreund und Kollegen“ steht dort geschrieben. „In unverwüstlicher Sympathie zugeeignet: Joachim Lottmann, 11. 9. 2004.“ Der 11. 9. ist längst vorbei, doch sein Lächeln sagt: Klingt besser so, gib es zu.

Ein Spaziergang durchs Bötzowviertel soll es sein, Lottmann selbst hat ihn sich gewünscht. „Hier bin ich groß geworden.“ sagt er, der Berlin erst spät für sich entdeckt hat und eigentlich in Köln „verheiratet ist“. „Vorher war ich ein x-beliebiger deutscher Autor, jetzt erst bin ich Joachim Lottmann.“

Lottmann sein geht ungefähr so: Man trägt einen schwarzen, sackigen Anzug, in dem man ein Leben lang aussieht wie 48 (jetzt, mit 48, steht er ihm nicht mal schlecht), neigt beim Zuhören gutmütig den Kopf zur Seite und setzt beim Sprechen ein onkelhaftes Lächeln auf, wie der Dorfpfaffe in einem Hansi-Kraus-Film. Wieso jetzt „Die Jugend von heute“ erscheint und nicht das angekündigte, längst legendäre Buch? Ganz einfach: „Ich hatte tatsächlich ein Buch fertig, dieses legendäre ‚Frauen in Freiheit‘, und habe dafür sehr viel Geld bekommen. Das sollte mit viel Aplomb an die Öffentlichkeit, doch dann bekam ich einen Anruf von meinem Verleger, der sagte, wir machen das doch nicht, wir wollen lieber einen neuen Text haben.“ Was andere Autoren in eine tiefe Sinnkrise stürzen würde, bei Lottmann klingt es wie die selbstverständlichste Sache der Welt: „Ich verstand das natürlich sofort, ich selbst hätte es als Verleger nicht anders gemacht. Ein nigelnagelneuer Lottmann-Text, das ist ja einfach fantastisch, da lässt man doch alles andere gerne stehen, oder nicht?“

„Neu ist immer besser“, gibt man zurück und fühlt sich: noch nicht ganz korrumpiert. „Eben“, sagt Lottmann mit Blick aufs Filmtheater Friedrichshain, wo er „jeden Abend um 10“ eine Vorführung besuche, obwohl ganz offensichtlich nicht mehr als drei verschiedene Filme laufen.

„Der Anruf meines Verlegers kam Weihnachten, und das alte Buch sollte im März ausgeliefert werden. Also habe ich meinen Neffen nach Berlin einbestellt, und der blieb dann drei Monate bei mir. In der Zeit habe ich das neue Buch geschrieben.“

Genauso liest es sich, schließlich hat Lottmann nicht umsonst jahrelang gegen jede Form von literarischer Fleißarbeit gewettert. Einfach mitschreiben wollte er, und so ist es nicht auch seine Schuld, dass auf den über 300 Seiten wenig Berichtenswertes passiert. Der Ich-Erzähler JoLo, ein berühmter Schriftsteller, der einst die deutsche Popliteratur erfand, begleitet seinen Neffen Elias durch die Berliner Clubs, und lernt so die „Jugend von heute“ kennen. Beziehungsunfähig, unpolitisch, entweder online oder drauf und meist nicht in der Lage, bessere Dialoge zu führen als diesen: „Was sagst du denn dazu, dass Lukas Miranda gebohnert hat !?“ – „Hat er denn? Ich dachte, sie hätten nur geknutscht?“ – „Ja, weil Miranda Angst hat, sie würde sich, wenn er sie bohnern würde, in ihn verlieben.“

Kurz: Es ist die Hölle. „Es war die Hölle“, sagt auch Lottmann, der jetzt vor hübsch sanierten Altbau stehen bleibt, „Genau hier wohnt der „große Holm Friebe.“ Auf dem Klingelschild steht „Zentrale Intelligenz Agentur“ und kurz darauf sitzt man schon an einem Wohnzimmertisch und trinkt „den berühmten Holm-Friebe-Kaffee“. „Ich schreibe ja nur auf, der Ethnologe darf nicht werten“, sagt Lottmann, während sich sein Freund der Agenturarbeit widmet. Der Roman sei reine Feldforschung, er habe sich der „Jugend von heute“ wie einem fremden, unbekannten Stamm genähert. „Ich hätte immer so weiterschreiben können, bis ich jemanden treffe, der wirklich fühlt oder Nähe sucht. Aber ich sage dir: Bei der heutigen deutschen Jugend wirst du das nicht finden, das sind ganz, ganz arme Kreaturen. Aber natürlich haben sie auch positive Seiten: Die Jugend von heute hat einen erweiterten Wirklichkeitsbegriff.“ – „Welchen?“

Lottmann ist jetzt offensichtlich warm: „Meinen. Sie glauben an nichts mehr, also an alles. Sie unterscheiden nicht zwischen wahr und unwahr oder gut und böse. Sie dämmern einem offenen Zukunftsfeld entgegen. Wo andere noch eine Schädeldecke haben, hat die Jugend von heute eine weit offene Tür. So ein crazy Lottmann-Text kommt da gerade recht.“

So langsam fühlt man sich in Trance genickt, das Lächeln beginnt zu spiegeln. Holm Friebe bringt den nächsten Kaffee und zeigt ein bisschen Mitleid: „Mit Joachim über seinen Wirklichkeitsbegriff reden?“ Er schüttelt den Kopf: „Das ist, als wolle man ein Interview mit Tom Kummer faken. Alles Teil der Lottmann’schen Verschleierungstaktik.“

Lottmann lacht jetzt, lauwarm. Sicher, auch in seinem neuen Buch wimmelt es von wirklichen Orten, an denen mehr oder weniger wirkliche Prominenz, mehr oder weniger entstellt agiert. Doch Lottmann schwört nichts als die Wahrheit zu schreiben. „Ich schreibe über Menschen, die es wirklich gibt, ich sehe in ihnen die höhere Wahrheit, die diese Menschen in sich selbst oft gar nicht sehen. Die mische ich dann mit der niederen Wahrheit – was sie anhaben und so. Die Mischung; ihre Lebenslüge plus das, was ich gesehen habe; genau so sind sie.“

Genau so: Die taz-Chefredakteurin Effi Miko etwa ist bei Lottmann eine sympathische alte bürgerliche Frau im Rüschenrock, die im Fernsehen immer auf jugendlich getrimmt ist, mit blauer Perücke und künstlichen Zahnlücken. „Da muss sie den Punk geben, schon wegen der Leser“, denkt sich der Ich-Erzähler, während er Miko im Sale e Tabacchi vom Nachbartisch beobachtet. „ Aber eigentlich war sie schon über 60 und liebte ihre Enkel, die Reitstunden bekamen.“ Max Goldt fährt bei Lottmann Porsche, und – noch kränker –Sven Lager firmiert als Bestsellerautor. Ein Wirklichkeitsbegriff, der Fakten und Fiktion vermischt, der ihm früher jedoch deutlich mehr Feinde einbrachte als heute. „Ich schreibe ja nur noch über Menschen, die ich bewundere, die freuen sich dann und schicken Fresskörbe. Die Zeiten, wo es hieß: Lottmann kommt, bringt Frauen und Kinder in Sicherheit, die Zeiten sind längst vorbei.“

Ende der Achtzigerjahre muss es besonders schlimm gewesen sein, Lottmann hatte nach dem Erfolg von „Mai, Juni, Juli“ einen Schlüsselroman über die Kölner Boheme geschrieben: „Die Frauen, die Kunst und der Staat“, der wie die meisten seiner Romane nie erscheinen sollte. „Dummerweise habe ich vorab ein paar Kapitel veröffentlicht, und dann brach eine Lynchjustiz aus, weil all die Leute, die ich sehr gut kannte, es nicht ertragen haben, dass ich ihnen den Spiegel vorhalte.“

Clara Drechsler, damals Spex-Redakteurin und eine der Protagonistinnen in Lottmanns Buch, sieht das inzwischen etwas anders. Irgendwann habe man Lottmanns weiches Graubrotgesicht einfach nicht mehr ertragen können, deshalb hätte er die Stadt verlassen müssen, bekannte Drechsler kürzlich anlässlich der Wiederveröffentlichung von „Mai, Juni, Juli“.

„Schlimm war das“, kommt es jetzt aus eben diesem Gesicht. „Ein Hexensabbatt. Diese widerwärtigen Menschen, die alle nichts verstanden haben. Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, was das für ein unkulturelles Klima war, bevor wir unsere wunderbare Hauptstadt bekamen. Wenn man es sich mit drei, vier Leuten verdorben hatte, mit Kippenberger oder Rainald Goetz, dann war man erledigt. Es war so: Ich war Thomas Mann, und Köln war mein Lübeck. Nur dass Mann schlau genug war, erst das Buch fertig zu schreiben und dann die Stadt zu verlassen.“

Die wunderbare Hauptstadt: Lottmann zieht es wieder hinaus. Genug vom berühmten Holm-Friebe-Kaffee, genug von früher. „Du darfst natürlich nicht den Fehler machen, meine Aussagen als Aussagen zu nehmen“, sagt er beim Aufbruch. „Das sind Lebenslügen, das darfst du alles nicht aufschreiben. Du musst dir dein eigenes Bild machen: welchen Pullover Holm Friebe trägt und wie genau mein Auto klingt.“

Lottmann meint es ernst: Es ist kälter geworden, jetzt könne man zu seinem Auto laufen, einem „großen“, nein, „sehr großen“ Auto, das müsse unbedingt rein. „Es ist größer als das da“, sagt Lottmann mit Blick auf einen Mercedes-Kombi. Ein letzter, langer Marsch, Zeit genug um eine letzte Lebenslüge anzusprechen: Lottmanns pathologisches Beharren darauf, die deutsche Popliteratur erfunden zu haben. Es schien, als hätte er bei seinen vermeintlichen Epigonen, bei den Krachts und Stuckrads, eine letzte Chance gewittert, doch noch eingemeindet zu werden, Teil einer Jugendbewegung zu werden, nachdem die Achtzigerjahre mit einem Platzverweis endeten. Doch seine Umarmungen wurden nicht erwidert. Noch so oft konnte er in seinen Texten Kracht mit Musil vergleichen, Stuckrad-Barre verteidigen oder Lanzen für das zu Unrecht „verfemte“ Genre der Popliteratur brechen: Die Angesprochenen schwiegen beharrlich.

„Das ist natürlich wahnsinnig traurig, eine Tragödie“, sagt er jetzt, mit dieser jenseitigen Milde im Gesicht, und man muss, ganz kurz nur, an einen der klarsten Momente in die „Jugend von heute“ denken. „Die Erwachsenen verstanden mich nicht“, hat er geschrieben, „Die Jugend verstand mich auch nicht, war aber wenigstens jung.“

Lottmann lächelt immer noch: „Objektiv sind das doch meine Verbündeten. Nur dass die das auf einer kranken, psychologischen Schiene nicht so gesehen haben und deshalb nicht wollten, dass ich mitmarschiere.“ Drei Blocks noch bis zu Lottmanns Auto, das immer größer wird, je länger wir laufen. Größer als dieses, größer als jenes, unfassbar groß.

Als redlich intellektueller Mensch hätte er doch zugeben müssen, Krachts „Faserland“ zu mögen, sagt er noch „und das obwohl es nicht mehr als eine platte Kopie von ‚Mai, Juni, Juli‘ ist.“

Zehn Meter noch, einmal um die Ecke, und wir sind da. „Das steht es“, ruft er stolz: Lottmanns Wartburg, Modell Tourist. Ein Zweitakter, graubrotgrau.

Joachim Lottmann: „Die Jugend von heute“, KiWi-Paperback, Köln 2004, 320 S., 8, 90 Euro