: Zahlenzauberei
DAS SCHLAGLOCH VON KLAUS KREIMEIER
Der Bundesregierung geht es gut. Montags ist nun wieder weitgehend Ruhetag. Den Anti-Hartz-IV-Demonstranten ist wohl weniger die Wut als die Kraft ausgegangen. Wer Woche für Woche auf die Straße gerufen wird, muss Prioritäten in seiner Zeitplanung setzen – zumal wenn er oder sie am Rand der Arbeitslosigkeit laviert und seinen oder ihren Existenzkampf täglich neu zu organisieren hat.
Kriegen sich obendrein die diversen Initiatoren des Protests in die Haare, statt dem noch sehr amorphen, fast schamhaft artikulierten Unbehagen in weiten Teilen der Bevölkerung Gestalt, Stoßrichtung und Selbstbewusstsein zu verleihen, wird das, was da „soziale Bewegung“ sein will, von denen, die es besser wissen müssten, wieder einmal verraten und verkauft.
Der Regierung geht es gut, weil sie diese den Protest hemmenden Faktoren in ihre Rechnung nicht einkalkulieren muss. Sie kann mit ihrer institutionell bedingten Schlichtheit ein „Abflauen der Proteste“ melden und sich dabei sogar in die Brust werfen, weil ihr die Fernsehbilder, die Zeitungskommentare und nun sogar die Umfrageergebnisse Recht zu geben scheinen.
Es geht ihr gut, weil ihre Fantasieverweigerung, sprich die zur Gebetsformel verkommene Rede von der „Alternativlosigkeit“ ihrer Reformen, sich wie ein Albdruck auf die Fantasie und das Nachdenken in der gesamten Öffentlichkeit legt und Gehorsamsadressen auch von unerwarteter Seite produziert. Die Gewerkschaften sind, von einigen unteren Gliederungen abgesehen, auf Hartz IV – „keine Alternative“ – voll eingeschwenkt, und die Sozialverbände erhoffen sich, ob berechtigt oder nicht, ohnehin eine Stärkung durch die famosen Ein-Euro-Jobs.
Der Regierung geht es gut, weil inzwischen auch in den kulturellen und ideologischen Überbau Ordnung einzieht. Dass der Merkur, zufälligerweise punktgenau, mit den vorwiegend von der Linken besetzten „Ressentiments“ aufräumt, ist natürlich der schon sprichwörtlichen Verlässlichkeit Karl Heinz Bohrers in Sachen Gegenreformation zu verdanken. Relativ neu ist der Dreh, die globalisierungskritische Bewegung nicht nur antiquierter antikapitalistischer Emotionen zu verdächtigen, sondern sie in einen Topf mit ziemlich dumpfen Instinkten zu werfen.
Wenn, wie in dieser Zeitung geschehen (siehe am letzten Samstag in der taz „Modell Querfront“), die Kritik am globalen Wirtschaften mit pauschalem Antiamerikanismus und tief sitzenden antisemitischen Reflexen in eins gesetzt wird, geschieht eben jener komplexen Sicht auf eine komplexe Welt Unrecht, um die es dem Autor doch eigentlich geht. So wird einer neuen Simplizität in Sachen Freund und Feind zum Durchbruch verholfen – Carl Schmitt und Wolfgang Clement lassen grüßen.
Apropos Clement: Der Bundesregierung geht es ziemlich schlecht. Sie hat nämlich zu ihrer Verblüffung herausgefunden, dass sie im Januar kommenden Jahres von den Realitäten, die sie selbst geschaffen hat, eingeholt werden wird – und zwar auf eine sehr unangenehme Weise. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe wird, so schätzen Clements Beamte, die Zahl der Arbeitslosen erheblich in die Höhe treiben, weil ungefähr eine halbe Million so genannter erwerbsfähiger Sozialhilfeempfänger in die Flure der so genannten Arbeitsagenturen drängen werden.
Die Bundesregierung, so meldet der Spiegel, befürchtet einen massiven „Imageschaden“, was nachvollziehbar ist, weil sie den ganzen Zinnober mit Hartz IV letztlich veranstaltet hat, um die Zahl der Arbeitslosen deutlich zu senken. Schon immer war klar, dass ihr dieses Kunststück, wenn überhaupt, nur auf dem Papier, also mit Sprachzauberei und statistischen Taschenspielertricks, gelingen würde. Jetzt reibt sie sich erschrocken die Augen, weil sie zu begreifen beginnt, dass sie auf das Spiel mit Schein und Sein, das sie der Öffentlichkeit vorgaukeln wollte, erst einmal selbst hereingefallen ist.
Da die Politiker von den Politikvermarktern gelernt haben, dass alles nur eine Frage der richtigen Kommunikation sei, reagiert auch Clement auf das neue Desaster so, wie es zu erwarten ist: Er ruft nach einer dem Problem angemessenen „Kommunikationsstrategie“, die seine eigenen Kommunikationsfuzzis zusammen mit dem Bundespresseamt und der Bundesagentur für Arbeit erfinden sollen.
Auf diese Kommunikationsstrategie darf man gespannt sein. Schließlich steht sie doch vor der Aufgabe, einen statistischen Trick, den die Regierung ersonnen hat, um die Öffentlichkeit zu täuschen, so darzustellen, als habe sich nicht die Regierung, sondern die Wirklichkeit geirrt, die aus rein statistischer Willkür etwas hervortreibt, was weder die Regierung noch ihre Zahlentrickser bezweckt haben wollen.
Dem Publikum, so Clement, solle erklärt werden, es sei nur ein „statistischer Effekt“, wenn die Arbeitslosenzahl in die Höhe schnellt – sozusagen ein vernachlässigenswerter Nebeneffekt von Hartz IV, der etwas mit Zahlen zu tun hat; man weiß ja, was von Zahlen zu halten ist.
Zahlen sind Konventionen, mit denen wir uns über Mengen und Mengenrelationen verständigen. Im gesellschaftlichen Diskurs nehmen sie darüber hinaus den Rang von Symbolen ein.
Symbole rufen bildliche Vorstellungen wach, oft schleppen sie Geschichte mit, fast immer eignen sie sich für Zwecke der Manipulation. Zahlen als Symbole werden emotional gelesen; sie können Furcht einjagen und blanke Wut erzeugen, sie werden interpretiert und fehlinterpretiert, und nicht selten lösen sie bei den Verantwortlichen falsche Reaktionen aus.
Eine Viertelmillion Anti-Hartz-Demonstranten auf dem Alexanderplatz – das hätte die Regierung in Angst und Schrecken versetzt. Panische Flickschusterei wäre die Folge gewesen. Die 45.000 vom letzten Samstag werden nun als Beweis für eine angeblich wachsende Zustimmung im Volk, zumindest aber für eine erfolgreiche Kommunikationsstrategie verbucht. Zwei Millionen Arbeitslose in der Bundesrepublik der 80er-Jahre – das bedeutete den allmählichen Abschied von der Vollbeschäftigung. Als die Zahl auf drei Millionen kletterte, wurde es schick, von der „postindustriellen Gesellschaft“ zu sprechen und das allmähliche Verschwinden der Arbeit zu prognostizieren.
Heute bewegt sich die Statistik zwischen vier und fünf Millionen; Zahlen, die der Realität näher kommen würden, werden nicht veröffentlicht. Sechs Millionen markieren die absolute Schmerzgrenze fürs politische Milieu: Das ist exakt die Zahl, die das Ende der Weimarer Republik besiegelt und den Nazis mit zur Macht verholfen hat. Verständlich ist es schon, dass die Regierung Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um irgendwie die Statistiken hinzubiegen.
Kummer bereitet Clement nur, dass zurzeit keine „belastbaren Zahlen“ vorliegen. Diesen Begriff aus dem politischen Jargon muss man übersetzen. Belastbare Zahlen sind Zahlen, mit denen man heute glaubwürdig jonglieren kann, um sich drei Monate später ebenso glaubwürdig nicht mehr an sie zu erinnern. Allmählich muss man sich fragen, was von einer Regierung zu halten ist, die nicht einmal mehr den von ihr selbst gefälschten Statistiken traut.
Fotohinweis:Klaus Kreimeier ist Publizist und Medienwissenschaftler; er lebt in Berlin.