Bremsklotz Referendum

Brüssel wird die Verhandlungen mit der Türkei aufnehmen – und die Bedingungen für deren Aufnahme verschärfen

AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER

Noch selten hat ein Schriftstück aus Brüssel im Vorfeld für so viel Aufregung gesorgt wie dieses. Heute wird die scheidende Kommission unter Romano Prodi den „Fortschrittsbericht Türkei“ vorlegen – vom Kleingedruckten wird abhängen, wann die Beitrittsverhandlungen beginnen können und ob Ankara die gleichen Startbedingungen erhält wie Warschau, Sofia oder Bukarest.

Inzwischen zeichnet sich ab, dass niemand in Brüssel und den Hauptstädten der EU mehr wagt, die geweckten Erwartungen auf türkischer Seite zu enttäuschen und den Verhandlungsbeginn weiter hinauszuschieben. Gleichzeitig greifen immer mehr Politiker in die Trickkiste, um die Vollmitgliedschaft auf Schleichwegen in einen Beitritt zweiter Klasse umzumünzen. So verriet Erweiterungskommissar Günter Verheugen am Montag in einem ZDF-Interview, dass er eine „dauerhafte Schutzklausel“ vorschlagen werde, die es den alten Mitgliedsstaaten ermöglicht, „Zuwanderung aus der Türkei jederzeit zu regulieren oder zu begrenzen“.

Die Freizügigkeit für Personen, ein Kernmerkmal der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, wäre damit erstmals für ein Mitgliedsland dauerhaft außer Kraft gesetzt. „Wenn dies zum Muster von zukünftigen Mitgliedschaften werden sollte, würde die EU als Flickenteppich-Gemeinschaft enden“, kommentierte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament, der konservative Abgeordnete Elmar Brok.

Der künftige Kommissionspräsident José Manuel Barroso sagte am gleichen Abend, er begrüße die französische Initiative, das Volk vor einem möglichen Beitritt zu befragen. Auch das ist in der Geschichte der Erweiterungen der Europäischen Union ein einmaliger Vorgang. Noch-Haushaltskommissarin Michaele Schreyer dämpfte die finanziellen Erwartungen des Kandidaten. Sie rechnete gestern im Handelsblatt vor, die Nettotransfers der Union in die Türkei würden höchstens 15 Milliarden Euro pro Jahr ausmachen. „Es gibt keine Philosophie, dass neue Herausforderungen einfach auf den EU-Etat aufaddiert werden“, betonte sie.

Ihr Kollege Franz Fischler, der das Landwirtschaftsressort leitet, hatte dagegen kürzlich gewarnt, allein für Agrarsubventionen würden jährlich elf Milliarden Euro fällig. Fischler war bei seinen Berechnungen davon ausgegangen, dass für die Türkei dieselben Bemessungsgrundlagen für Subventionen gelten werden wie für alle anderen Mitgliedsländer auch.

In einer Studie, die heute zusammen mit dem Fortschrittsbericht in Brüssel vorgestellt wird, hat die EU-Kommission die Auswirkungen eines Türkeibeitritts auf die derzeitige Union untersuchen lassen. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass bei einem Beitrittstermin 2015 zehn Jahre später jährlich knapp 28 Milliarden Euro netto aus Brüsseler Töpfen in den türkischen Haushalt fließen würden. Der gesamte EU-Haushalt beträgt derzeit knapp 100 Milliarden Euro.

Bis es so weit ist, wird die politische Spitzenmannschaft in den Hauptstädten Europas schon mehrmals gewechselt haben. Wenn die Regierungschefs beim Gipfel Mitte Dezember in Brüssel erwartungsgemäß beschließen, die Verhandlungen mit der Türkei Anfang 2005 aufzunehmen, können sie realistisch davon ausgehen, dass erst ihre Nachfolger die Rechnung werden bezahlen müssen.

Innenpolitisch allerdings wird der Verhandlungsprozess schon bald für Sprengstoff sorgen – je nach Interessenlage und politischer Landschaft des Landes auf ganz unterschiedliche Weise. Während in Polen die Verhandlungen mit Ankara als Eisbrecher für einen Beitritt der Ukraine gesehen werden, hoffen die Euroskeptiker in Großbritannien darauf, den Integrationsprozess durch eine Erweiterung Richtung Asien zu bremsen. Genau das fürchten wiederum die Integrationsbefürworter in Frankreich.

Präsident Chirac hat seinem Volk nun ein Referendum über den Türkeibeitritt in Aussicht gestellt, um zu verhindern, dass das im Herbst 2005 geplante Referendum zur Verfassung von den Bürgern in eine Protestabstimmung gegen die Türkei umgemünzt wird.

Ob sich die Franzosen mit der Aussicht auf eine Türkeiabstimmung irgendwann in den nächsten Jahren abspeisen lassen, wenn doch die Weichen für die Erweiterung jetzt gestellt werden, darf allerdings bezweifelt werden.