„Sonst fahre ich BMW. Ist aber kaputt“

Von Freitag auf Samstag und von Samstag auf Sonntag verkehrt zwischen dem Bremer Hauptbahnhof und der Diskothek „Capitol“ in Oyten der Nachtbus 71. Für die Kids ist der Bus erste und letzte Station der Nacht. Begleitet werden sie dabei von einem Security-Team, das die Linie 71 als „Hotline“ kennt

von Ingrid Seitz

Samstagnacht. Der Platz vor dem Hauptbahnhof ist fast menschenleer. Allerdings: An der Bushaltestelle, im Leuchtkegel des Wurst- und Pommesstandes Kiefert, fällt ein stetig wachsender Pulk von Jugendlichen ins Auge. Alter? So zwischen 15 und 20 Jahren. Viel Schminke, hohe Stiefelabsätze und viel Gel im Haar machen sie älter.

Etwas abseits, eine kleine, im Kreis stehende Gruppe von erwachsenen Männern. Ihre dunklen Uniformen heben sich kaum vom Dunkel der Nacht ab. Sie rauchen, und immer wieder drehen sie ihre Köpfe zur Straßenkreuzung. Beide Gruppen haben heute Nacht etwas gemeinsam: sie warten auf den Nachtbus mit der Nummer 71.

Gegen 22.30 Uhr biegen grelle Scheinwerferlichter um die Ecke. In beide Gruppen kommt Bewegung. Während sich die Jugendlichen enger zusammendrängeln, überqueren die Männer eilig die Straße. Ihr Job beginnt.

Seit etwa einem Jahr begleiten die Mitarbeiter des Bremer Service Teams (BST) jeden Freitag und Samstag die „Hotline“, wie sie selbst den Nachtbus nennen. Von 22.30 Uhr bis 5.30 Uhr zur Diskothek „Capitol“ im 20 Kilometer entfernten Oyten und wieder zurück zum Hauptbahnhof. Hin und her. In dieser Nacht haben Oli (19), Stefan (20), Mario (40) und Sven (28) * Dienst. „Es ist nicht unbedingt eine beliebte Schicht“, sagt Sven. „Als es uns aber noch nicht gab, wurden die Busfahrer oft tätlich von den Jugendlichen angegriffen. Einige Male haben die sogar die Kasse geklaut.“

Sobald der Bus hält, stürmen die etwa hundert jungen Nachtschwärmer auf dessen Vordertür zu. „Die wollen alle mit der ersten Fuhre mitkommen“, sagt Sven. Die Jugendlichen schieben sich an den vier Männern vorbei durch die Eingangstür. Der Umgangston der beiden Gruppen ist sachlich, aber nicht unterkühlt. Besonders die Jugendlichen, die jedes Wochenende ins „Capitol“ fahren, haben sich längst an ihre uniformierten Begleiter gewöhnt und wissen, welche Regeln gelten, um Ärger zu vermeiden: ordentlich hinsetzen, nicht rauchen und den Bus nicht zumüllen.

Der Fahrer bleibt beim Anblick der langen Schlange entspannt. Er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Geduldig tippt er auf sein Registriergerät ein, reißt die Fahrkarten ab, zählt Wechselgeld. Er fühlt sich sicher.

Langsam füllen sich die Sitze, dann der Gang, bis irgendwann fast nichts mehr geht. „Rückt bitte mal auf, dass alle mitkommen“, dröhnt die Stimme des Fahrers durch die Deckenlautsprecher. Endlich sind alle eingepfercht. Kurz vor 23 Uhr setzt sich der Bus über Sebaldsbrück, Osterholz in Richtung Oyten in Bewegung.

Das Sicherheitsteam hat sich aufgeteilt: Stefan und Sven hinten, Oli und Mario vorne. Sie unterhalten sich. Dennoch ist eine ständige Anspannung spürbar. Marios unruhige Blicke wandern immer wieder nach hinten zu Sven. „Der Blickkontakt zu den Kollegen ist die wichtigste Grundregel“, sagt er.

Etwa vierzig Minuten später ragen drei rote Leuchtstäbe in die schwarze Nacht empor. Sie säumen das Säulenportal des „Capitols“. Dahinter eine riesige flache Halle aus Wellblechwänden – Großraumdisco.

Vor einer Dönerbude, die die ganze Nacht geöffnet hat, spuckt der Bus seine Passagiere aus. Bevor der Bus die Route nach Sottrum oder Rotenburg fortsetzt, setzt er Oli, Stefan, Mario und Sven ein Stück weiter, am beleuchteten Bahnhof bei der Taxizentrale, ab. Sie nehmen den nächsten Bus zurück zum Hauptbahnhof. Das heißt: 15 Minuten Pause an der frischen Luft. Die blauen Uniformjacken geben Erdnusstüten, Mandarinen, Fantadosen und Zigaretten frei. Eine rauchen. Toiletten gibt es auch.

„Es ist besser, hier zu warten, als an einer unbeleuchteten Ecke. Einige dubiose Gestalten können uns echt nicht ab“, sagt Sven. Seit vor einigen Wochen bei einer Fahrkartenkontrolle am helllichten Tag die Messerklinge eines Minderjährigen den Oberschenkel eines Kollegen durchstach, sind sie noch vorsichtiger geworden.

Weit nach 24 Uhr nimmt der Bus nicht nur die Kontrolleure mit zurück nach Bremen, sondern auch einige Jungs, die am Türsteher des „Capitols“ gescheitert waren, weil sie Ausländer sind. „Dabei ist er selber einer. Konnte kaum Deutsch“, erzählt einer von ihnen mit ruhiger Stimme. Wütend ist er nicht. Er möchte es nur gerne verstehen.

3.00 Uhr, dritte Tour zum „Capitol“. Am Hauptbahnhof warten schon etwa dreißig Nachtschwärmer. Aus der Versenkung taucht plötzlich wieder der am Türsteher Gescheiterte in einem der Sitze auf. Er war eingeschlafen und hatte eine 50 Kilometer lange Ehrenrunde gedreht. Der Busfahrer, der zuvor alleine die Tour gefahren ist, bemerkte ihn nicht. Erst Oli weckt ihn.

Während der Fahrt nach Oyten wetten Oli, Stefan, Mario und Sven immer aus Spaß, wieviel Kids vor dem „Capitol“ stehen. 15, 20, 35, 25 lauten die Spekulationen. Weit gefehlt. Es sind über 50. „Eigentlich ist der Bus erst auf der letzten Tour brechend voll“, sagt Mario erstaunt.

Das perfekte Styling der Mädels ist jetzt nicht mehr ganz so perfekt: die ondulierten Schillerlocken haben sichtlich an Spannkraft verloren. Der Glitzerpuder hat sich, mit Schweiß vermischt, über das Gesicht verteilt. Verwischtes, schwarzes Mascara verleiht den Augen etwas Düsteres. Ihre müden Köpfe kleben an den Schultern ihrer bisher kaum mit Bartwuchs gesegneten Freunde. Die Jungs hängen, in seltsamen Verrenkungen, schlafend auf den Rückenlehnen. An jeder Haltestelle schrecken alle kurz hoch, wenn einer vom BST-Team in die dösende Menge brüllt, damit bloß keiner seine Haltestelle verpennt.

Circa 5.00 Uhr. Mit warmer Cola sollen die Anzeichen von Müdigkeit behoben werden. „Die letzte Tour ist die anstrengendste, weil das Capitol bald dicht macht“, raunt Sven und gähnt. Um jetzt alle Nachtschwärmer aufzusammeln, werden zwei Busse benötigt. Die vier Männer bekommen Verstärkung von zwei Kollegen, die sich die Nacht im mobilen Einsatzwagen oder in anderen Nachtlinien um die Ohren geschlagen haben.

Beide Busse sind voll bis unters Dach. Alkohol, Joints und Glückspillen zeigen noch immer ihre Wirkung – von Leichenblässe gezeichnete Gesichter bis hin zur penetranten Aufgedrehtheit eines nicht stillstehenden Mundwerks und herumzappelnder Körperglieder. „Manchmal wäre es ratsam, Brechtüten auszuteilen“, kommentiert Sven. Noch können sich alle beherrschen.

„Ich fahre heute das erste Mal mit dem Bus. Sonst fahre ich nämlich BMW. Weißt du. Ist aber kaputt. Hey, wo wohnst du? Wie heißt du?“. Keine Antwort. Die Regel im Team ist: Niemals den eigenen Namen preisgeben. „Ich wohne in H-Town, weißt du.“ Damit meint er Huchting. „Kennst du jemanden da? Ich kenne alle. Weißt du. Sag mir jemand, den du kennst, los.“ Mario, der wieder vorne beim Fahrer steht, wird gnadenlos vollgetextet von J.J. (20). Der hat Markenklamotten, viel Gel im Haar, ein hübsches Gesicht und bewegt sich mit einer Hand an der Haltestange wie ein Gummimännchen.

„Hey, caklan. Schlag ein, Mann.“ Er hält Mario seine offene Handfläche zum Einschlag hin. Mario schlägt ein „Caklan“, bietet J.J. erneut seine Hand an. „Und, caklan“, erwidert Mario. Beide Handflächen klatschen aufeinander. So in der Form geht es bestimmt mehr als 20-mal. Dann müssen zwei Mädels, neben denen ein Platz frei geworden ist, J.J. für den Rest der Fahrt ertragen. Mario behält ihn scharf im Auge.

Gegen halb sechs Uhr morgens: Ankunft Hauptbahnhof. Es ist geschafft. Endlich der ersehnte Schlaf für alle.

Namen von der Red. geändert