„Einkaufen ist Freizeitkultur“

Die Karstadt-Krise ist Ausdruck einer Krise im Einzelhandel, sagt der Stadtsoziologe Frank Roost. Und sie ist Spiegel der sozialen Polarisierung der Gesellschaft: Reich kauft in der, Arm vor der Stadt

INTERVIEW ROLF LAUTENSCHLÄGER

taz: Herr Roost, Karstadt beabsichtigt in Berlin Kaufhäuser zu schließen und die halbe Stadt steht Kopf. Haben Sie eine Erklärung, warum?

Frank Roost: Es fällt natürlich schwer, von lieb gewonnenen Gewohnheiten wie dem Warenhaus Abschied zu nehmen. Darum die Aufregung. Zugleich wird uns der Strukturwandel in den Innenstädten nun schmerzlich bewusst. Die Karstadt-Krise ist Ausdruck einer Entwicklung, die sich schon seit längerem abgezeichnet hat, nun aber richtig aufbricht. Grundsätzlich betrifft diese Krise den gesamten Einzelhandel in seiner alten Form.

Wie müssen wir uns das konkret vorstellen?

Handel ist immer im Wandel. In dem Maße, wie etwa vor 20 Jahren die Kaufhäuser sowie der großflächige Einzelhändler die kleinen traditionellen Läden kaputtgemacht haben, so gibt es jetzt in der Stadt eine Gegenentwicklung. Erfolg hat der Einzelhandel heute durch Spezialisierung und in kleineren Einheiten. Entweder passen sich die Großen dem an – oder sie werden gehen müssen.

Der traditionelle Warentempel ist vorbei, sagen Sie. Warum verkauft dann das KaDeWe gut?

Das Kaufhaus quasi als Ansammlung von Waren unter einem Dach – wie das bei den kleineren Karstadt-Häusern zu finden ist – ist vorbei. Anders ist es bei großen Kaufhäusern à la KaDeWe, die sich über Jahre hinweg konsequent umgebaut haben – vom Warentempel mit breitem Angebot zum Haus mit sehr spezialisiertem Angebot.

Der Shop-in-Shop ist also nach wie vor trendy …

Ja. Shop-in-Shop heißt ja, dass es einzelne Markenshops sind. Und heute spielen im Einzelhandel die Marken eine riesige Rolle. Die Strategien der Konzerne sind darauf ausgelegt, den Menschen nicht nur Kleidung, sondern zugleich ein scheinbares Lebensgefühl, ein Image, eine „Philosophie“ zu verkaufen, die die Marke verkörpern soll.

Im Übrigen entspricht das den gesellschaftlichen Prozessen von sozialer Differenzierung und Entmischung in der Stadt. Je nachdem was für ein Typ ich bin, orientiere ich mich da- oder dorthin. Bin ich hip und Teil der Stadtgesellschaft, bedienen Läden und bestimmte Kaufhäuser diesen Lifestyle. Und diese Läden überleben.

Wenn der alte Warentempel in der Stadt als Symbol oder Magnet nicht mehr zieht, warum fahren trotzdem täglich tausende in die Warentempel am Stadtrand?

Im Einzelhandel spricht man von der Dualisierung. Diese Dualisierung ist nichts anderes als der Spiegel der sozialen Polarisierung insgesamt. Die Konsumtempel waren in der Nachkriegszeit innerstädtische Anziehungspunkte für eine mittelschichtsorientierte Gesellschaft. Der Arbeiter und der Arzt kauften beide bei Karstadt, der Arzt kaufte sich nur den besseren Mantel. Was wir heute im Zuge der sozialen Polarisierung erleben, ist, dass sich die Begüterten nicht nur das bessere Produkt kaufen, sondern damit zugleich einen besseren Lebensstil zelebrieren wollen. Man geht in bestimmte Stadtteile, in bestimmte Läden mit Ambiente – einkaufen ist Teil einer Freizeitkultur.

Wer sich diese Lebensstil-Orientierung nicht leisten kann, muss an den Stadtrand in die Discounter. Der Boom der Discounter ist das Resultat der sozialen Polarisierung. Interessant ist, dass selbst bei der Mittelschicht, die auf ihre ökonomischen Ressourcen achten muss, diese Dualisierung bemerkbar ist. Bestimmte Dinge des Alltags kauft man bei Lidl oder Aldi, am Wochenende wird durch die Boutiquen gebummelt.

Was bedeutet die Schließung der Karstadt-Standorte etwa für Moabit, Schöneberg oder Neukölln?

Die Subzentren Berlins mit breitem Spektrum trocknen aus, es findet eine Konzentration auf große Kaufhäuser statt. Die Turmstraße etwa wird eine Meile aus Discountern. Die Verschiebungen materieller Art ziehen soziale nach sich.

Folgt dem Karstadt-Aus mehr Verarmung?

Vielleicht. Es kann für Stadtteile problematisch werden, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht mehr am allgemeinen Konsum teilhaben können. Man muss dem Management hier den Vorwurf machen, nicht rechtzeitig das Ruder herumgerissen zu haben und Arbeitslosigkeit zu produzieren.

Berlin, meint die Senatsbauverwaltung, hat noch den Bedarf für 400.000 Quadratmeter Einzelhandelsfläche.

Es ist doch fragwürdig, mit solchen Zahlen zu operieren. Denken Sie an die Zeit Anfang der 1990er-Jahre, als man Berlins Büroflächenbedarf mit dem Hinweis auf München oder Frankfurt hochgerechnet – und politisch damit an die Wand gefahren – hat. Jetzt stehen die Flächen leer. Auch beim Einzelhandel muss man sich genau die Strukturen, die Konsumenten, die Bedürfnisse, das Stadt-Umland-Verhältnis anschauen. Berlin hat beispielsweise kaum Käufer aus dem Umland. Im Rhein-Main-Gebiet ist das anders.

Sind die geplanten Einkaufs-Malls, etwa die an der Frankfurter oder Landsberger Allee und am Alexanderplatz, angesichts der Handelsflächen am Stadtrand und des von Ihnen beschriebenen Trends nicht ein Risiko? Warum solche Dimensionen?

Generell ist es nicht verkehrt – besonders in Ostdeutschland – mit der Ansiedlung innerstädtischer Einkaufszentren die Innenstadt gegenüber den suburbanen Märkten wieder zu stärken. Nur es macht keinen Sinn, das maßlos zu tun und dies zu planen, ohne genau auf die Standorte zu achten. Der andere Aspekt ist der des Kannibalismus: Was nutzt es, in Berlin-Mitte große nach innen orientierte Shopping-Center zu bauen? In den vergangenen Jahren wurde Wert darauf gelegt, möglichst wenig solcher Malls zu errichten. Wenn das jetzt wie am Alexanderplatz geschieht, verlagert man einfach nur das Shopping-Center von Einkaufslage A nach B.

Die Lage und Größe des Centers an der „Banane“ halten Sie also für problematisch?

Auf jeden Fall. Das schafft keine Qualitäten oder zieht neue Kaufkräfte an. Außerdem sind, im Gegensatz zu kleinen, große Strukturen – und damit wären wir wieder beim Kaufhaus – unflexibel. Damit produzieren wir wieder nur die Leerstandskatastrophen von übermorgen. Bei vielen kleine Läden kann man auf Krisen besser reagieren.

Bieten Krisen aber nicht auch alternative Chancen für solche Orte und Gebäude?

Alle Räume, die heute etwa von alternativer Kultur, von Jugendkultur oder Künstlern genutzt werden, wurden ja für diesen Zweck gar nicht gebaut. Das waren Industriegebäude aus dem 19. Jahrhundert oder Mietskasernen. Vielleicht passiert jetzt dasselbe mit den Nachkriegsbauten.

Der Palast wird ja heute auch kulturell genutzt. Also: Quelle oder Karstadt zu Kunsträumen?

Erinnern Sie sich daran, dass etwa die großen Kinos von Supermärkten besetzt wurden? Das kann sich nun wieder ändern. Ein leer geräumter Karstadt bietet großartige Räume für Lofts, für kulturelle Möglichkeiten und Ähnliches. Sich das vorzustellen, ist noch schwer – aber für Veränderungen sind die kreativen Strukturen ja da.