Die CDU hört auf ein neoliberales Meinungskartell“, sagt Heiner Geißler

Die Union muss die inhaltliche Großkoalition mit der SPD verlassen und die soziale Marktwirtschaft retten

taz: Herr Geißler, hat Sie der diese Woche gebilligte Leitantrag des CDU-Vorstands überrascht?

Heiner Geißler: Ja. Der Vorschlag, den Kündigungsschutz in den ersten drei Jahren aufzuheben, ist für den Arbeitsmarkt fast wirkungslos und schädigt das Ansehen der CDU als Volkspartei.

Besser ein Arbeitsplatz ohne Kündigungsschutz als keinen Arbeitsplatz mit, oder?

In keiner seriösen Untersuchung ist nachgewiesen, dass die Zahl der Arbeitsplätze steigt, wenn der Kündigungsschutz beseitigt wird. Wir haben den Kündigungsschutz oft gelockert und dann wieder verschärft, es hatte keine Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Aber es ist nicht zu leugnen, dass die CDU wie auch die SPD derzeit von einer neoliberalen Ideologie dominiert wird.

Sie sagen, die Neoliberalen bestimmen. Wird die CDU eine große FDP?

Dieses Oppositionsbündnis der CDU mit der FDP macht einen schlechten Eindruck. Die CDU befindet sie sich ohne Frage im Schlepptau eines Meinungskartells von den Wirtschaftsteilen der FAZ, Süddeutschen und Spiegel bis hin zum BDI. Einige in der CDU verstehen die Globalisierung offenbar so, dass sie ihr Denken an den Maximen des Shareholder-Value orientieren

Was ist das Eigene an der CDU, das sie wiederfinden muss?

Die CDU muss wie vor 50 Jahren eine neue Antwort auf die Globalisierung geben. Die Alternative zum derzeitigen neoliberalen Wirtschaftssystem heißt internationale soziale und ökologische Marktwirtschaft. Das Kapital hat den Menschen zu dienen, leider ist das heute umgekehrt. Die CDU als Erfinderin der sozialen Marktwirtschaft steht vor einer großen geistigen Herausforderung.

Das klingt ein wenig nach Oskar Lafontaine. Soll die CDU die SPD links überholen?

Was heißt denn links? Das ist doch keine Kategorie mehr. Kategorien, die wir brauchen, sind menschlich oder unmenschlich, wirksam oder unwirksam. Und das ist beides miteinander zu verbinden – Ökonomie und Humanität sind keine Widersprüche. Und diese Argumentation lässt sich auch nicht mit Oskar Lafontaine abwürgen. Vieles von dem, was er sagt, ist nicht falsch.

Welche Politik muss die Union konkret machen?

Bisher geht sie einen falschen Weg, um das richtige Ziel zu erreichen. Nicht die Löhne sind zu hoch, sondern die Lohnnebenkosten. Wir müssen die Beiträge vom Lohn abkoppeln. Das Stufenmodell der CSU oder die Bürgerversicherung wie in der Schweiz sind dafür besser geeignet als die Kopfpauschale, die so nicht finanzierbar ist. Außerdem muss Hartz IV grundlegend reformiert werden.

Das Hauptproblem sind Arbeitsplätze. Wie soll die CDU die schaffen?

Sie muss eine antizyklische Wirtschaftspolitik machen. Man muss sich trennen von den Maasstricht-Kriterien. Deutschland braucht eine begrenzt verstärkte Neuverschuldung zur Finanzierung von Investitionen und eine massive Abgaben- und Steuersenkung, damit die Leute wieder Geld in der Tasche haben. Das schafft Arbeitsplätze, und nicht Hartz IV. Unser Problem ist die Binnennachfrage, im Export sind wir Weltmeister. Man muss dann allerdings, wenn es wieder höhere Steuereinnahmen gibt, die Schulden auch zurückzahlen. Das ist der zweite Schritt von Keynes: die Kredite begleichen.

Braucht die Union dafür ein Grundsatzprogramm? Oder reichen Lösungen für das jeweilige Problem?

Viele Fehleinschätzungen sind darauf zurückzuführen, dass ihr der Blick auf das große Ganze verloren gegangen ist. Die Leute sind bereit, Opfer zu bringen, wenn sie den Sinn dahinter begreifen. Die CDU muss aber einen Überbau liefern, sie muss die großen Zusammenhänge erklären. Sie sollte sich den Einsatz für eine internationale soziale Marktwirtschaft zu Eigen machen und ihre Vorschläge in diesem Rahmen darstellen und begründen.

Wenn die CDU wie die SPD den neoliberalen Kurs einschlägt, bekommt sie dann auch irgendwann die gleichen Probleme? Massenaustritte oder sogar das Abspalten einer „CDU-Linkspartei“?

Das glaube ich nicht. Man kann auch bei der SPD nicht von Massenaustritten reden, doch ein neoliberaler Kurs schädigt die SPD natürlich stärker. Aber die CDU ist Mitglied einer inhaltlichen Großkoalition, deshalb wird sie auch weniger gewählt. Wie bei der realen großen Koalition 1968 werden die extremen Ränder gestärkt. Dieser Prozess hat bei den Wahlen im Osten schon begonnen.

Gibt es für die CDU noch Hoffnung?

Wenn sie das Ruder herumreißt: ja. INTERVIEW: DANIEL SCHULZ