„Die Entscheidung fällt im Dezember“

Ministerpräsident Erdogan zeigt sich zufrieden. In türkischen Medien überwiegt dagegen die Enttäuschung über das große „Aber“ im Bericht

ISTANBUL taz ■ Romani Prodi und Günter Verheugen hatten ihre Pressekonferenz in Brüssel just beendet, als sich der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in Straßburg hinter die Mikrofone setzte. Nach einem Auftritt vor dem Europarat, wo er geduldig alle Fragen der Delegierten beantwortet hatte, zeigte er sich erwartungsgemäß zufrieden mit der Entscheidung der EU-Kommission. Der Bericht, so Erdogan, sei im Großen und Ganzen ausgeglichen, will meinen fair, so wie es Erweiterungskommissar Verheugen zuvor versprochen hatte.

Erdogan hielt sich allerdings nicht lange bei einer Bewertung des Kommissionsberichtes auf. Damit sei zwar eine wichtige Etappe genommen, entscheidend sei nun aber der Gipfel der Staats- und Regierungschefs im Dezember. „Die politische Entscheidung fällt dort.“ Vorsorglich erinnerte Erdogan seine EU-Kollegen schon einmal daran, dass sie vor zwei Jahren in Kopenhagen zugesagt haben, die Verhandlungen „unverzüglich“, also in den ersten Monaten 2005, zu beginnen, falls die Türkei die Kopenhagener Kriterien erfüllt hat. „Das ist nun der Fall.“

Erdogans Auftritt war betont sachlich und zurückhaltend. Zuvor hatte sein Außenminister Abdullah Gül vor Journalisten in Ankara zwar schon von einer „historischen Entscheidung“ gesprochen, zu den Einzelheiten, insbesondere zu den Vorbehalten, die die Kommission formuliert hatte, wollte er aber nichts sagen, „solange man den Bericht nicht genau analysiert habe“.

Einzig Justizminister und Regierungssprecher Cemil Cicek ließ sich im türkischen Nachrichtenkanal NTV einige weiter gehende Statements entlocken. Er zeigte Verständnis für die Auflagen, die die Kommission den EU-Chefs empfiehlt. Das darin enthaltende Misstrauen, so Cicek, sei unter den vorangegangenen türkischen Regierungen entstanden und müsse nun eben mühsam abgebaut werden. Er stellte auch noch einmal klar, dass sich Ankara, aller Rhetorik über die Gleichbehandlung mit anderen Beitrittskandidaten zum Trotz, darüber bewusst ist, dass die Türkei für die EU nicht dasselbe wie Kroatien sein kann. „Es ist ein Unterschied, ob man einen Kiesel oder einen Felsen in einen Teich wirft – und die Türkei ist nun mal ein Felsen.“

Im Gegensatz zu der offiziellen Zurückhaltung war in den Medien die Enttäuschung über die vielen Abers und Notbremsen, die die Kommission in die Verhandlungen eingebaut sehen will, offenkundig. Besonders die Formulierung, dass Verhandlungen mit der Türkei nur ein Prozess mit „offenem Ausgang“ sein könnten, wurde von allen Kommentatoren als Zeichen interpretiert, dass die EU sich noch immer nicht wirklich für einen türkischen Beitritt zur Union erwärmen könne. Statt überschwänglicher Freude dominierte deshalb skeptisches Nachfragen, was der Bericht wirklich bedeutet.

Die nächsten Wochen wird nun wohl über den Zeitpunkt des Beginns von Verhandlungen spekuliert werden. In der türkischen Öffentlichkeit ist sehr genau registriert worden, dass insbesondere Frankreich, aber auch die Niederlande, Österreich und Dänemark unter der Formulierung „unverzüglich“ durchaus einen Zeitraum von mehr als einem Jahr verstehen könnten.

Die Hoffnung, dass der kommende EU-Gipfel zu dem großem Befreiungsschlag werden könnte, ist also ziemlich gering. Politik, Medien und Gesellschaft stellen sich vielmehr jetzt schon darauf ein, dass die nächsten Enttäuschungen bevorstehen könnten. Spontaner Jubel auf den Straßen war deshalb gestern nicht zu verzeichnen. JÜRGEN GOTTSCHLICH