Der Flirt wird ernst

Es wird verhandelt, und zwar lange, sagt die EU-Kommission. Die Europa-Parlamentarier spenden fast einhellig Applaus

AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER

Es war der Tag der großen Worte und Gesten: Im Blitzlicht-Bad der Kameras und vor den Augen der Europaabgeordneten lagen sich der scheidende Kommissionspräsident Romano Prodi und Noch-Erweiterungskommissar Günter Verheugen in den Armen. Die Empfehlung, Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu beginnen, sei „das Ergebnis von fünf Jahren Arbeit, die zu den stolzesten Errungenschaften dieser Kommission gehören“, sagte der deutsche Kommissar, der nächsten Monat in das Amt des Superkommissars für Wirtschaft und Wettbewerb der neuen Kommission Barroso wechseln wird.

Auch einige Europaabgeordnete inspirierte der historische Moment zu rhetorischen Höhenflügen. „Es gibt aggressive, zu jeder blutigen Attacke bereite Menschen, die sagen: Islam und die westliche Werteordnung schließen sich aus. Wenn der Beitritt der Türkei gelänge, wäre diese These eindrucksvoll widerlegt“, sagte der Vorsitzende der sozialistischen Fraktion, Martin Schulz. „Drei Viertel der türkischen Bevölkerung wollen die Mitgliedschaft. Aber zwei Drittel sind überzeugt, dass es niemals dazu kommen wird – die Türkei hat etwas Besseres verdient!“, rief der liberale Fraktionschef Graham Watson den Abgeordneten im Plenarsaal zu. Und Daniel Cohn-Bendit von den Grünen donnerte: „Nach dem Wunder vom Rhein und dem Wunder von der Oder ist es an der Zeit, an das Wunder vom Bosporus zu glauben!“

Der Annäherungsprozess zwischen der EU und der Türkei ist Verheugen zur Herzensangelegenheit geworden – das wurde gestern bei den kritischen Fragen mancher Abgeordneter noch einmal deutlich. Als „Unwort des Jahres 2004“ bezeichnete Hans-Gert Poettering, Vorsitzender der konservativen Fraktion, die Kommissions-Formulierung, es gebe keine systematische Folter mehr in der Türkei. Auch habe die Pressekonferenz Verheugens mit Erdogan vorvergangene Woche in Brüssel den Eindruck erzeugt, seine Objektivität sei diesem als „Freund“ bezeichneten Mann gegenüber eingeschränkt.

„Das Gegenteil von systematischer Folter ist individueller Missbrauch“, stellte Verheugen daraufhin klar. „Von systematischer Folter sprechen wir, wenn damit der Machtanspruch einer Regierung aufrechterhalten werden soll.“ In der Türkei sei das Gegenteil der Fall. Die Regierung Erdogan untersuche weit mehr Foltervorwürfe, als bei Menschenrechtsorganisationen aktenkundig seien. Das Wort „Freund“ sei im Übrigen nicht im privaten Sinne zu verstehen – sondern wie das Wort „Parteifreund“ bei den Christdemokraten.

Wie sein Parteifreund Poettering betonte auch Elmar Brok, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, dass die Verhandlungen mit der Türkei „ergebnisoffen“ geführt werden müssten. Ein Scheitern müsse ebenso möglich sein wie die Vollmitgliedschaft oder die von vielen Konservativen befürwortete „privilegierte Partnerschaft“. Das leite sich schon aus der Tatsache ab, dass die eigentlichen Finanzverhandlungen erst 2014 beginnen könnten.“

Der Beitritt der Türkei dürfe „unser 50-jähriges Aufbauwerk nicht in Gefahr bringen“, hatte Romano Prodi betont. „Alles läuft darauf zu, dass Finanzhilfen für die Türkei nicht in die Finanzielle Vorausschau der Jahre 2007 bis 2013 eingebaut werden können.“ So steht es indirekt auch in den schriftlichen Empfehlungen der Kommission. Erst wenn die nächste Finanzplanung von 2014 an auf dem Tisch liege, könnten die Verhandlungen abgeschlossen werden.

Doch auch dann könnte die Türkei ein Partner zweiter Klasse bleiben. „Lange Übergangsregelungen könnten nötig werden. Bei der Strukturpolitik und der Landwirtschaft könnten Sonderregeln nötig sein. Der freie Zugang zum Arbeitsmarkt könnte auf Dauer unter Vorbehalt gestellt werden“, lautet dazu die Kernaussage in den Empfehlungen. Die türkische Regierung sei auf diese Einschränkung vorbereitet worden. „Es gibt auf türkischer Seite keine Einwände“, betonte Verheugen. „Ankara rechnet nicht damit, dass in zwölf oder dreizehn Jahren das Problem einer Wanderungsbewegung aus der Türkei in die Europäische Union noch besteht.“