Eine Pforte für die Wortlosen

Jehuda Bacon verliert schon als Kind seine Familie. In den KZs des Dritten Reichs. Im Willy-Brandt-Haus zeigt der jüdisch-tschechische Künstler, der Rache ein kindisches Gefühl nennt, eine Auswahl seines Werkes. Das soll helfen, Brücken zu bauen für all die, die keine Worte zum erlebten Grauen mehr finden

VON STEFAN KLOTZ

Viel wird Berlin nicht wahrnehmen vom alten Mann und seiner verlorenen Kindheit. Die Bühne gehört anderen. Lebhaft diskutiert die Stadt die Flick-Collection, gespalten in Kunstberauschte und Vergangenheitsbewusste. Ihre Bürger sitzen vor den Kinoleinwänden und beobachten in Eichingers am Donnerstag angelaufener Produktion, wie Hitler, der teuflische Diktator höchstselbst, die Hauptstadt vor 60 Jahren in den „Untergang“ donnerte. Da bleibt nur in der dritten Etage des Willy-Brandt-Hauses Platz. Hier zeigt der eher klein gewachsene Jehuda Bacon seine spartanisch anmutenden Kunstwerke. In ihnen verarbeitet er seine Zeit im Vernichtungslager Auschwitz. „Meine Bilder sind ein Fenster zur Seele“, sagt Bacon, „eine Pforte für die, die nicht reden können.“ Für die, die keine Worte mehr finden für das Grauen das ihnen widerfuhr. Zwischen ihnen will Bacon eine Brücke aufrichten.

Er, Bacon, ist einer der Davongekommenen. Als einer der wenigen KZ-Häftlinge hat der gebürtige Tscheche Auschwitz überlebt. Mit 13 Jahren gerät er mit seinen Eltern und seiner Schwester in die Vernichtungsmaschinerie der Nazis. Aus ihrem Zuhause im heutigen Ostrava in Tschechien wird die Familie chassidisch gläubiger Juden zuerst ins KZ nach Theresienstadt verschleppt und dann weiter nach Auschwitz. In den dortigen Gaskammern verliert der Vater des 14-Jährigen Jehuda 1944 sein Leben. Von unzähligen Todesmärschen ausgemergelt, sterben seine Mutter und seine Schwester kurz vor der Befreiung im KZ Stutthof an Typhus. Der ebenfalls typhuskranke Jehuda überlebt, weil ein amerikanischer Soldat den entkräfteten Jungen aus dem KZ Gunskirchen entgegen der Vorschrift sofort zum Arzt bringt.

Seine Kunstwerke in der SPD-Zentrale sind meist Tuschezeichnungen, schlicht in Schwarz-Weiß gehalten. Auf Farbe hat der heute 75-Jährige lange verzichtet. Mit wenigen Linien hat er tiefschichtige Gemälde geschaffen. Oft sind Frauen mit Kindern die Motive. Gesichter tauchen auf, werden variiert und schmiegen sich aneinander, suchen die Nähe anderer.

In Theresienstadt musste Bacon für die SS-Leute im KZ-Kinderchor singen. Heimlich zeichnete und schrieb er. „Bereits damals wusste ich, die Kunst, das ist mein Leben.“ Ein Leben, das dann doch länger dauerte als die sechs Monate Arbeitsdienst im KZ, für die ihn die Nazis vorgesehen hatten, bevor sie ihn töten wollten. Trotz der erlittenen Qualen will sich der seit 1946 in Jerusalem lebende Bacon nicht nur auf seine Vergangenheit beschränkt sehen: „Ich wollte nicht nur mit diesem einen identifiziert werden. Ich wollte etwas anderes schaffen und kein Berufs-KZler werden.“ Nicht dass Bacon über sein Schicksal schweigt, er weigert sich nur, von seiner Vergangenheit eingeschlossen zu verharren.

Als einer der ersten Juden tritt er den langen Weg zur Aussöhnung mit Deutschland an. Bereits Ende der 50er reist er, begleitet von heftiger Kritik der Freunde und Holocaust-Überlebenden, zum ersten Mal ins Land der Täter, nach München. Bacon begibt sich, so Bacon, auf einen langen Weg zu sich selbst. „Wir Kinder der Schoa waren in der Seele 80-Jährige. Ich musste zuerst wieder ein 16-Jähriger werden, um dann wie alle Menschen zu altern.“

Bedächtig spricht er vom „Dach über seinem Kopf“, das ihm in Auschwitz genommen wurde. Mit seinem Charisma umschließt er seinen Zuhörer. Auf Deutsch, seiner Muttersprache, berichtet er mit leichtem Akzent, wie er in der Kunst ein neues Obdach für seine Seele fand. Dabei ist er hellwach, sehr präsent, ganz da – trotz geraubter Kindheit und verdoppeltem Alterungsprozess.

Als geografische Heimat wählte er 1946 Jerusalem. Bereits mit 30 Jahren wird Bacon Professor für Grafik und Kunst an der dortigen Bezalel-Kunstakademie, was er auch bis zu seiner Emeritierung 1994 bleibt.

Seine große Stütze in diesem Leben ist sein chassidischer Glaube vom göttlichen Funken, den jeder Mensch in sich trägt. Aus Angst vor den Nazis feierte seine Familie Jehudas Bar Mizwa kurz vor der Verschleppung in der Waschküche. „Schon im KZ hatte ich eine Ahnung von Spinoza, ohne ihn gelesen zu haben. Dass etwas im Menschen ist, was ihn überdauert.“ Wenn Jehuda Bacon Sätze wie diesen sagt, haben sie nichts von verquaster Konfessionsesoterik. Seine Präsenz verleiht ihnen Authentizität. „Dieser Glaube und das Erzählen meiner Vergangenheit ist mein Weg, mit dem Leben umzugehen“, befreit er seine Worte von akademischer Papiernheit. Auch für die, die lieber schweigen, hat er Verständnis.

Nachdem Nazi-Größe Adolf Eichmann als Leiter des „Umsiedlungsreferats“ im „Reichssicherheitshauptamt“ 1961 in Jerusalem zum Tode verurteilt worden war, verfasste der jüdische Theologe Martin Buber einen Brief, in dem er eine Haftstrafe statt der Hinrichtung Eichmanns forderte. Eichmann, auch verantwortlich für die Verschleppung der Familie Bacon – wie für alle Judendeportationen im Dritten Reich – wird zur weltweiten Hassfigur. Aber auch Bacon unterzeichnet einen Brief gegen die Hinrichtung des Massenmörders. „Rache ist ein kindisches Gefühl“, findet er. Worte, die beeindrucken. Rache, das wäre das allerverständlichste Gefühl, das einer empfindet, wenn er an die Auslöschung der eigenen Familie und an die Vernichtung seines Volkes denkt.

Wie er da sitzt, der alte zierliche Herr Bacon, mit leicht schütterem grauem Haar. Die Hände vor dem Bauch gefaltet, durchdringt er sein Gegenüber mit seinen strahlend blauen Augen und erzählt sein Schicksal mit entwaffnender Ruhe. Ohne vergrabenen Hass, ohne quälende Trauer, einfach als der Mensch, der er ist. Auch im politisch aufgeladenen Prozess der deutsch-jüdischen Aussöhnung bewegt sich Bacon lieber von Mensch zu Mensch als zwischen Parteien.

Aus dem KZ befreit kam der kleine Bacon nach Prag in ein Waisenhaus. Der Tscheche Premysl Pitter kümmerte sich in seinen Asylen um tschechische Kinder ebenso wie um Waisen aus der Hitlerjugend. „Es geschah eine Art Wunder“, beschreibt Bacon die Situation. „Die Hitlerjungen und wir lebten friedlich miteinander und spielten zusammen.“ Für Bacon markiert das den Wendepunkt: „Menschen wie Pitter schenkten uns gleichermaßen uneingeschränkt ihre Liebe. Ich begann wieder an die Menschen zu glauben.“

Seine künstlerische Ausbildung erhält er an der Prager Kunstakademie. Mit 17 geht er nach Palästina, ins Land seiner Propheten. Dorthin, wo heute wieder der Hass seinen Tribut an Menschenleben fordert. Doch für Bacon gibt es keine Alternative zu Jerusalem als Wohnort. Dort ist seine geistige Heimat. Mit einem Stipendium seiner späteren Lehrstätte, der Bezalel-Kunst-Akademie in Jerusalem, begann er sein Studium. Martin Buber wurde sein spiritueller Lehrmeister. „Er hatte ein Wahnsinnsgedächtnis“, strahlt Bacon beim Gedanken an den Theologen. „Vor einer Romreise von mir, beschrieb er mir Kirchen, die er 30 Jahre zuvor besucht hatte, detailgenau.“

Doch auch Bacon kann sich auf sein Erinnerungsvermögen verlassen. Zwar verweist er ständig auf sein geringes Alter zur Zeit in Auschwitz, doch sein Gedächtnis ist präzise. Am 30. Oktober ist es genau 40 Jahre her, dass Bacon im Bürgerhaus Gallus seine Aussage als Zeuge im Frankfurter Auschwitz-Prozess machte. Die Richter hielten ihn für besonders zuverlässig, da er die KZ-Lageranlagen detailliert beschreiben konnte. Zusammen mit anderen internierten Kindern musste der Junge die Asche der Toten im Pferdewagen aus dem Krematorium fortkarren und auf die im Winter vereisten Wege streuen. „Ich habe Häftlinge im Krematorium gebeten, mir alles aus ihrem Lageralltag zu erzählen. Vielleicht würde es einmal wichtig werden“, so Bacon. Nicht nur juristische Fakten wollte er liefern. „Eine Art Grabstein für die verstreute Asche der Toten sollen meine Berichte sein“, wünscht sich der ergraute Herr.

1964 dann muss er 22 seiner zahlreichen Peiniger von Auschwitz in Frankfurt gegenübersitzen. Die Prozessbeobachter sind erschüttert über die Gefühls- und Reuelosigkeit, die die SS-Schergen zu den von ihnen verübten Grausamkeiten an den Tag legten. „Alles habe ich erzählt. Alle Scheußlichkeiten, die sie verbrachen, aber auch das Gute, das sie taten“, sagt Bacon, und man reibt sich ungläubig die Ohren. „Ich habe erzählt, wie SS-Mann Baretzki Häftlinge zu Tode geprügelt hat. Aber ich musste auch erzählen, wie er uns Kindern heimlich Brot zugesteckt hat.“ Das zu berichten war seine moralische Pflicht, daran lässt Bacon keinen Zweifel. Baretzki sei nach Prozessende der Einzige gewesen, der ansatzweise Reue gezeigt habe, glaubt Bacon.

So beeindruckend Bacons Biografie, sein künstlerisches Werk und nicht zuletzt sein warmherziger Charakter sind, mit dem er sein Gegenüber sofort für sich gewinnt, sie können doch nicht erklären, wie es dem geschundenen Jungen gelang, sich den Funken im Menschen, der für Bacon über allem steht, in solch Menschen liebender Form zu bewahren.

Auf dem Weg zu Pitter, zurück nach Prag, sah der Waise deutsche Gefangene auf der Straße arbeiten. Sie trugen die Uniform der Männer, die auch seinen Vater vor seinen Augen zusammengeschlagen hatten. „Zuerst wollte ich den Nächstbesten mit einem Stein erschlagen. Doch ich kannte diesen Mann nicht. Warum hätte ich ihn prügeln sollen?“, fragt Bacon. Mit seinem Leben gibt er eine Antwort und streckt dem Land, das den Holocaust in seiner Geschichte hat, die Hand zur Versöhnung entgegen.

Noch bis zum 10. Oktober hängt eine Auswahl des Oeuvres von Jehuda Bacon im Willy-Brandt-Haus, Stresemannstraße, Kreuzberg