stein und steinpilz, mann und frau von WIGLAF DROSTE
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Graubünden ist ein so leckerer Kanton, ich möchte Graubünden aufessen. Nicht auf einen Happs und auch so vorsichtig, dass immer alles schön nachwächst. Sonst wäre Graubünden ja komplett weg, und das wäre furchtbar, zumindest kulinarisch. Ich möchte nicht nur einmal Salsiz de Stambecco bekommen, wie die Steinbocksalami hier appetitanregenderweise heißt. Die Jagdsaison ist eröffnet und verspricht lauter liebe Tiere, Steinpilze und Maroni gibt es auch. In der Rhätischen Bahn von Chur nach St. Moritz überlasse ich meinem Bauch das Kommando, mein Bauch träumt für mich.

Die Süße dagegen liest Hacks. Die Frau veredelt den Mann, das olle Viehzeug, wenn es sich das gefallen lässt. Aller Antrieb zur Kulturleistung ist weiblich oder homosexuell, ein heterosexueller Mann hat für so etwas keine Zeit. Er muss jagen, nein: jarrgen, um sich den Marrgen vollzuschlarrgen. Auch das Dichten fällt unter das Jagen, denn für das Dichten gibt es Geld, und für Geld gibt es manches, was man braucht. Das sieht dann auch die Frau ein, sehr sogar.

Die Süße liest den großen Monolog „Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe“, den Peter Hacks für die Schauspielerin Karin Gregorek schrieb. Ich bekomme vorgelesen, was unverheiratete Männer wie ich für Schurken sind: „Die Junggesellen wollen uns weismachen, sie mieden die Anstrengungen der Ehe, weil sie für die Liebe geboren seien. Was sie in Wahrheit meiden, sind die Anstrengungen der Liebe.“

Mag sein, doch mein Magen und meine Zunge sind bei drei Jahre gereiftem Bergkäse und Hirschsalsiz, und deshalb gebe ich, zwar gewohnheitsmäßig die Fassade des Hochinteresses errichtend, dahinter aber nur unwesentlich anwesend, zurück: „Stein? Es gibt Steinpilze? Wunderbar!“

Die Süße reckt die langen Arme nach oben, ballt die Fäuste, wirft unwirsch das dunkle Haar und macht eine wegwerfende Handbewegung. Zum Glück müssen wir in Thusis umsteigen, ins Postauto nach Andeer. (Postauto klingt nach Kleinwagen, ist aber der Bus.) Mir fällt ein Telefonat mit Richard Weize vom Bear-Family-Label ein. Weize rief mich an, um mir zu mitzuteilen, dass in einer Hörbuchangelegenheit die Frage der Rechte noch ungeklärt sei. „Ich sage dir das“, sagte er zum Schluss, „damit du dich nicht ignoriert fühlst.“

„Kein Problem“, antwortete ich. „Wenn du dich mal nicht meldest, fühle ich mich nicht gleich ignoriert.“ Weize konterte mit einer seltsamen Frage: „Bist du verheiratet?“

„Nein“, sagte ich. „Warst du mal verheiratet?“, fragte er. Wahrheitsgemäß verneinte ich abermals. „Dann“, sagte Weize trocken, „weißt du auch gar nicht, was ignorieren heißt.“

Ich wandte mich wieder meinen Steinpilzträumen zu. In Andeer stiegen wir aus, um das Postauto noch einmal zu wechseln – unser Reiseziel hieß Avers, auf 2.100 Meter Höhe, wo ich zu einer Lesung gebeten war. Die Süße zitierte noch einmal Hacks und seine Frau von Stein und deklamierte mit gespielter Bitternis: „Wehe der Unglücklichen, die unternimmt, einen Dichter zu lieben.“

„Stimmt genau“, gab ich gern zu. „Aber einen Designer hätten sie sicher nicht nach Avers eingeladen.“