Launen der Natur

„Was ist mit mir los?“, fragte sich Tobias Tegeler, als sein Leben nur sinnlos schien. Er leidet an einer manisch-depressiven Erkrankung. Van Gogh und Mozart waren betroffen, 150.000 Berliner sind es

VON FELIX WADEWITZ

Nach dem Rausch kommt immer der Absturz. Deshalb hat Tobias Tegeler* Angst vor dem Rausch. Mit Drogen hat das nichts zu tun. Tegeler, 34 Jahre alt, ist krank. Er leidet an einer bipolaren Störung, bekannter als manisch-depressive Erkrankung.

Anfang der 90er-Jahre verlief Tegelers Leben noch ziemlich normal. Nach dem Abitur verließ der 20-Jährige das Dorf in der Nähe von Magdeburg, wo er aufgewachsen war, und kam zum Studieren nach Berlin. Ehrgeizig war er, erinnert sich Tegeler, das Grundstudium der Elektrotechnik schaffte er in drei Semestern. Nebenbei büffelte der Student BWL, trat in eine christliche Studentengemeinde ein, traf eine junge Frau und verliebte sich in sie. Das war 1993. Ein Jahr später ist Tegeler in der Psychiatrie. Was war passiert?

„Stimmungsschwankungen waren für mich normal: Mal begeisterte ich die Leute, dann zog ich mich lieber zurück, um für mich zu sein“, sagt Tegeler. „Down zu sein, das war nicht so schlimm, das ging immer wieder vorbei.“ Bis es plötzlich nicht mehr vorbeiging. „Ich war unten, kam aber nicht mehr hoch.“ Statt schnell und selbstsicher war er nun langsam und hatte Angst. Und wusste nicht, warum.

Als „Achterbahn der Gefühle“ wird die Krankheit beschrieben, unter der Tegeler leidet. Die Patienten werden, vereinfacht ausgedrückt, von einem übermäßigen, unrealistischen Gefühl des Glücks und maßloser Stärke plötzlich in Trauer und Verzweiflung gestürzt. Von der Manie in die Depression. Bipolare Störungen beeinflussen neben der Stimmung auch das Denken, die Gefühle, den Körper, kurz: die Fähigkeit, das Leben zu bewältigen.

Die Krankheit kann zwar jeden treffen, unabhängig von Alter und Geschlecht, trotzdem scheint es so, dass Kreative und Intellektuelle häufiger darunter leiden. Ernest Hemingway, Winston Churchill, Vincent van Gogh, Wolfgang Amadeus Mozart – ihnen allen wird nachgesagt, bipolar gewesen zu sein.

Über ein Drittel der Patienten leidet außerdem an mindestens einer weiteren psychischen Störung wie etwa schweren Ängsten. Die Lebensqualität der betroffenen sinkt rapide, Arbeitsunfähigkeit zwingt viele zu verfrühtem Rentnerdasein. Bipolare Patienten beziehen durchschnittlich mit 46 Jahren Erwerbsunfähigkeitsrente, ergab eine Erhebung der „Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen e.V. (DGBS)“. Mindestens jeder vierte Betroffene unternimmt einen Suizidversuch.

Berücksichtigt man auch die leichteren Formen, sind in Berlin bis zu 150.000 Menschen betroffen, knapp 5 Prozent der Bevölkerung. Doch trotz der Häufigkeit ist die Versorgung der Patienten oft mangelhaft. „Die Anliegen der Betroffenen werden vernachlässigt“, sagt Dr. Heinz Grunze von der DGBS. So würden bipolare Störungen viel zu selten erkannt. Zehn Jahre vergingen im Schnitt vom ersten Ausbruch bis zur richtigen Diagnose.

Auch Tobias Tegeler wurde nicht gesagt, was er hat. Antidepressiva halfen nicht. „Was ist mit mir los?“ Tegeler wusste es nicht, die Ärzte wussten es auch nicht. „Das hat alles noch schlimmer gemacht.“ Der junge Mann erinnert sich noch genau an den traumatisierenden Krankenhausaufenthalt. „Wann gehst du denn in die Psychiatrie? Nur dann, wenn du verzweifelst nach Hilfe sucht. Und dort merkst du: Die können dir auch nicht helfen. Das ist hart.“ Nach einigen Wochen ist Tegeler plötzlich wieder gesund. Einfach so. Warum, kann ihm keiner genau sagen.

Bei der Entstehung einer bipolaren Störung spielen oft mehrere Faktoren eine Rolle. Die Wahrscheinlichkeit, an ihr zu erkranken, ist höher, wenn schon die Eltern manisch-depressiv sind. Etwa die Hälfte aller Patienten hat Angehörige, die ebenfalls daran leiden. Allerdings ist es keine klassische Erbkrankheit, da keine einzelne Genkonstellation die Ursache ist. Eher wird eine gewisse Veranlagung für psychische Erkrankungen weitergegeben. Auslöser von Manie oder Depression ist oft Stress in kritischen Lebenssituationen – wie die Geburt des Kindes oder der Tod eines Freundes.

Im Sommer 1996 beendete Tegeler sein Studium an der Technischen Universität und begann zu arbeiten, als Softwareentwickler. Die Arbeit machte ihm Spaß. Schnell ernannte ihn sein Chef zum Projektleiter, der 27-Jährige war nun für vier Mitarbeiter verantwortlich. Das Arbeitspensum stieg, Tegeler arbeitete jetzt mehr und mehr auch am Wochenende, er trennte sich von seiner Freundin, um Zeit für sich selbst und den Job zu haben. „Ich machte immer mehr“, erinnert sich Tegeler. „Ich war richtig aufgedreht, ging fast jeden Abend mit Freunden weg, begann zu zeichnen, Gitarre zu spielen und sang im Chor. Um das alles zu schaffen, ging ich gegen Mitternacht ins Bett und stand um vier Uhr wieder auf. „Es war wie im Rausch.“ Im Herbst 1999 hat Tegeler plötzlich keine Lust mehr, Gitarre zu spielen. Das hatte er zuvor immer geliebt. Morgens spielte er, bevor er zur Arbeit ging, und abends, wenn er wieder zurück war. „Es fiel mir immer schwerer, mich für den Job zu motivieren. Ich begann, früher nach Hause zu gehen, ich hatte Minusstunden.“ Bald konnte ich nichts mehr tun, außer auf dem Sofa zu liegen. Ich wurde krankgeschrieben.“ Zu Hause bekam Tegeler Angstzustände, glaubte, sterben zu müssen. Ein Freund brachte ihn im Frühjahr 2000 in die Psychiatrie.

Nach zehn Wochen entließen die Ärzte Tegeler. Besser ging es ihm nicht. Daran änderten auch zwei weitere Klinikaufenthalte nichts. Überall das Gleiche: Die Ärzte probierten verschiedene Antidepressiva aus. Tegeler schluckte Tabletten und wartete.

Nach einem Jahr Krankheit wagt Tegeler einen Neubeginn und fängt wieder an zu arbeiten. Alles lief gut. „Ich bin geheilt“, dachte er und setzte die Tabletten ab. Zehn Wochen später war er wieder in der Klinik. „Ich akzeptierte, dass ich eine schwere Krankheit habe. Ich nahm wieder Medikamente, suchte mir einen Psychologen und eine Selbsthilfegruppe.“

Im Internet stieß Tegeler zufällig auf die Gesellschaft für bipolare Störungen. Auf den Seiten der DGBS las Tegeler das erste Mal, was manisch-depressive Menschen erleben. „Mir wurde klar, dass ich eine bipolare Störung habe.“ Tegeler fand auf der Homepage der DGBS eine Selbsthilfegruppe für bipolare Menschen, eine der wenigen Möglichkeiten zum Austausch in Berlin. „Alle hatten Ähnliches erlebt, sind jahrelang nach falschen Diagnosen behandelt worden. Sie kannten sich mit Medikamenten aus und hatten Zeit für mich.“

Der Psychologe Dr. Thomas Bock sagt: „Medikamente sind sinnvoll, ohne begleitende Gesprächstherapie aber sind sie fahrlässig.“ Denn auch mit Tabletten liege das Rückfallrisiko bei 50 Prozent. Bock bietet seit fünf Jahren eine Gruppentherapie an. Die Patienten beobachten sich gegenseitig und lernen dabei mehr über sich selbst.

Als die nächste Depression kam, wusste Tegeler, wen er anrufen konnte. Die Leute aus der Gruppe halfen ihm durch das neue Tal. „Das machte Mut.“ Tegeler begann zu lesen, besuchte Kongresse. „Es wurde immer klarer, dass ich eine Bipolar-II-Störung habe. Ich bekam das empfohlene Medikament, mein Zustand verbesserte sich deutlich.“

Heute arbeitet Tegeler halbtags, seine Firma schickt ihn zu Kunden ins Ausland, er hat den Segelschein gemacht, und er leitet eine Selbsthilfegruppe. Er sagt: „Ich bin nicht geheilt, aber ich kann das Leben wieder genießen.“ Das richtige Medikament und die Freunde sollen ihn schützen vor dem Rausch aus Aktivitäten und Überschwang – und dem darauf folgenden Absturz. „Ohne die Selbsthilfegruppe hätte ich nie die Kraft gehabt, mich mit der Krankheit zu beschäftigen. Das ist wie mit dem Abenteurer, der im Dschungel war. Er kann in noch so schillernden Farben erklären, wie es dort ist. Verstehen kann ihn nur der, der auch im Dschungel war.“

*Name geändert