Die Natur der Stadt

Der BR zeigt eine erstaunliche Dokumentation über New York vor 9/11 („Im Strom der Menschen“ So., 23.45 Uhr)

Ein noch unschuldiger Blick zeichnet Gea Kalthegeners Dokumentarfilm aus. Ihr New-York-Porträt zeigt die Stadt in der Zeit vor dem 11. September 2001. Das macht „Im Strom der Menschen“ heute zu einem zweifachen Erlebnis. Zunächst als eine großartige Studie der Stadt und ihres Sounds; erzählt ohne großen linearen Aufbau, vielmehr zusammengesetzt aus kleinen Alltagsbegebenheiten, kurzen Begegnungen und Stimmungen. Zum anderen, weil eben dadurch die Dimension der Katastrophe, von der wir heute wissen, erst richtig deutlich wird: „Hier gibt es keine Natur. Die Natur hier sind die Menschen“, sagt Heather Goldenhersh, eine der Protagonistinnen des Films über New York. Und eben diese Menschen traf der Terroranschlag.

Vielleicht ist die Dokumentation der Münchner Filmemacherin wirklich eine Art Naturfilm. Gea Kalthegener hat fünf Monate lang mit ihren Protagonisten gelebt, gelitten und gelacht. Sie habe für sie „ein Interesse an den Tag gelegt wie Konrad Lorenz für seine Wildgänse“, sagte die Autorin des Fernsehsenders 3sat, die über „Im Strom der Menschen“ berichtete, als er vor zwei Jahren auf dem Filmfest München lief. Die Stadt und ihre Menschen lieben es, gehörig Lärm zu machen. Die glückliche Fügung, dass Gea Kalthegener den Krach nicht weniger liebt und den Originaltönen mit wenigstens der gleichen Emphase nachgeht wie den Bildern, hebt denn ihren Film unter den sonstigen Großstadtreportagen heraus.

Das bemerkte auch Alexander Kluge, der sie in München sofort vor sein Mikrofon holte, um sie für XXP zu interviewen. Er sah in der Tonspur ihres Films, wo die Alarmsirene eines Autos zum Anlass einer Kantate wird, die jemand zum Rhythmus des Hupens singt, geradezu ein eigenständiges Projekt.

Ein wenig schade ist es daher schon, dass der Film für seine Erstausstrahlung eine deutsche Tonspur bekam. Doch Herbert Fritsch, Star der Volksbühne in Berlin, kann in seinem erzählerischen Kommentar, der über den Originalstimmen liegt, knapp bleiben. Denn ein Typ wie Auguste spricht für sich selbst, auch wenn man seinen New Yorker Tonfall nicht verstehen sollte. Er perforiert und bearbeitet die Filmschnipsel, die er bei seinem Putzjob im „Anthology Film Archive“ findet, um aus ihnen neue Filme voll merkwürdig poetischer Muster zu kompilieren, die jederzeit im Museumskino laufen könnten.

BRIGITTE WERNEBURG