Herr der Hörspiele

Der Hessische Rundfunk hat das Fantasy-Epos „Otherland“ vertont: Es ist mit 250 Stimmen in 24 Stunden das ehrgeizigste Hörspiel aller Zeiten

VON JUTTA HEESS

Wer in 24 Stunden mehr als 250 Stimmen hört, ist eigentlich reif für die Psychiatrie. Im Fall von „Otherland“ muss man wohl eine Ausnahme machen, obwohl das Projekt selbst auch ein bisschen wahnsinnig ist: ein 24-stündiges Hörspiel, auf der Grundlage des gleichnamigen Romans von Tad Williams. Gegen seinen 3.500 Seiten dicken Fantasy-Wanst ist „Der Herr der Ringe“ nur eine kleine Broschüre.

Nach Tolkiens „Hobbits“ auf der Leinwand nun also Williams’ Wesen im Radio. Schon im Vorfeld übertreffen sich die Beschreibungen gegenseitig: „die Inszenierung der Superlative“, „das Rekord-Hörspiel“, „das Mammut-Hörspiel“, überhaupt „das größte Hörspiel der Radio-Geschichte“. Regisseur und Initiator der „Otherland“-Vertonung, Walter Adler, sagt, es sei das Umfangreichste, Größte, Mächtigste, was er je gemacht habe.

Damit das offenbar tollste Hörspiel aller Zeiten nicht bloß durch seine Überlänge in die Geschichte eingeht, haben die Verantwortlichen auch am Personal nicht rumgekleckert. Es macht im Grunde fast jeder bekannte Sprecher und Schauspieler aus dem deutschsprachigen Raum mit: zum Beispiel Sophie Rois, Julia Hummer, Nina Hoss, Sylvester Groth, Ulrich Matthes und Rufus Beck. Dann sind da noch Meret Becker, Susanne Lothar, Maria Schrader, Sebastian Rudolph, Manfred Zapatka und alle, die hier nicht genannt werden können. Quasi als Special Guests geben sich Thomas D. von den „Fantastischen Vier“ und MTV-Moderator Markus Kavka die Ehre. Was das umwerfendste Hörspiel der Welt sein will, braucht natürlich auch die längste Besetzungsliste.

Die vollmundigen Vorschusslorbeeren schrauben die Erwartungen natürlich weit nach oben. Aber worum geht es eigentlich? Und wie hört es sich an? In „Otherland“ wimmelt es nur so vor Protagonisten (von den Nebenrollen mal abgesehen), die alle ein Geheimnis ergründen wollen: das Geheimnis von „Otherland“, einer virtuellen Welt, in der sich habgierige Menschen und andere Wesen das ewige Leben ergaunern wollen. Deshalb fallen überall in der wirklichen Welt kleine Kinder in ein unerklärliches Koma.

Ausstaffiert sind die Handlungsstränge mit einem kuriosen Personal: Teenager Orlando, der vorzeitig altert und „Herr der Ringe“-Fan ist, Computerspezialistin Renie Sulaweyo, Paul Jonas, ein Soldat aus dem Ersten Weltkrieg, Software-Agent Beezle, Penelope und Agamemnon, eine Stachelschweinfrau, das Rattengesicht, eine Notausgangsstimme, eine sprechende Uhr und so weiter. In „Otherland“ ist irgendwie von allem etwas drin: Tolkien und Stanislaw Lem, „Alice im Wunderland“ und „Odyssee“, „Star Trek“ und „Matrix“. Zwölf Erzähler führen zur Orientierung durch das Hörspiel.

Von der Frage, ob ein solch verwickelter Plot allein zum Hören taugt, haben sich Walter Adler und sein Team nicht Bange machen lassen. Tatsächlich ist es imponierend, wie das Geschehen akustisch umgesetzt wurde – mal ganz abgesehen von den Soundeffekten, die es laut kawummen und auch mal leise regnen lassen. Die Sprecher sind wohl in der Tat die besten, die Adler für sein Projekt hat gewinnen können. Ihre Stimmen überschlagen sich, brüllen, dröhnen, donnern, hecheln, säuseln, fiepsen und – machen „Otherland“ ganz schön spannend.

Die Lobeshymnen vorab kommen also nicht von ungefähr. Der Hessische Rundfunk kann sich stolz auf die Schulter klopfen und sich angesichts des schmachvollen Dudel-Relaunches der Hörfunkwelle HR1 und der geplanten Absetzung der quotenschwachen „Late Lounge“ im Hessen Fernsehen wenigstens ein ganz kleines bisschen rehabilitieren. Solche Entschädigungsproduktionen der Superduperlative sollten sich auch andere Sender mal einfallen lassen.

Die ersten sechs Folgen von „Otherland“ laufen ab 10. Oktober, jeweils sonntags, um 14.05 Uhr auf HR2 sowie vom 25. bis 30. Dezember täglich um 23 Uhr auf YOU FM. Der erste Teil ist bereits im Hörverlag erschienen.