Wladimir Putins neuer Bonapartismus

Unter dem seit 2000 amtierenden russischen Präsidenten hat sich eine Allianz aus Geheimdienst, Militär, Bürokratie und Kapital als herrschende Klasse etabliert. Elektronische Medien wurden Propagandainstrumente, das Volk Manövriermasse

Beslan war ein will-kommener Anlass, Reste der Demokratie zu beseitigen

AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH

Es scheint so, als könnten Misserfolge Wladimir Putin nichts antun. 5 Prozent des Wählerzuspruchs büßte er nach dem Geiseldrama von Beslan ein. Zwei Drittel der Bürger halten dem Staatschef unverdrossen die Treue. Dabei war Putin in der Geiselaffäre dem Image, Russlands neuer Garant von Stabilität zu sein, nicht gerecht geworden.

Drei Tage verschwand Putin, sonst Leitfigur jeder Nachrichtensendung, aus der Öffentlichkeit. Wie vor vier Jahren beim Untergang des Atom-U-Bootes „Kursk“. Nur diesmal drückten sich auch die Untergebenen um die Verantwortung. Nach vier Jahren Putin ist niemand mehr bereit, in brenzligen Situationen eigenständig Entscheidungen zu fällen. Alle schauen nach oben, auf die letzte Instanz.

Obwohl der Bürger Nachsicht zeigt, sind die Paladine der Macht, Polittechnologen und Imagemaker, die seit fünf Jahren an der Legende des Präsidenten feilen, nervös geworden. 1 Prozent Wählerschwund wiegt nach den Messverfahren in der Ära Putin schwer. Auch auf geringfügige Verschiebungen reagiert die politische Elite empfindlich. Dafür gibt es einen triftigen Grund. Das System steht und fällt mit der Popularität des Staatschefs.

Schwindet dessen Ansehen, droht das ganze Gebilde in sich zusammenzusacken. Allein er verleiht der Macht des Kreml Legitimität. Regierung, Staat und Bürokratie begegnet der Russe mit großem Misstrauen, da er diese meist als Quelle von Willkür und Korruption kennt. Die Diskrepanz zwischen dem Kult um den Präsidenten und Ablehnung der Staatsapparate birgt unterdessen eine latente Gefahr.

Als Putin 2000 in den Kreml gewählt wurde, zog er ohne eigene Hausmacht ein. Schlagworte wie Stärkung des Staates, Diktatur des Gesetzes, Sicherheit und Ordnung wirkten nicht nur auf die Wähler wie ein Magnet. Die Bürokratie, in den 90er-Jahren mit dem Stigma des Modernisierungsbremsers behaftet, bot sich als willfähriger Gehilfe an. Putin päppelte sie auf und schaute weg, wenn sie die Menschen verhöhnte, Recht verdrehte und sich im Tausch für Lippenbekenntnisse zu Kreml, Staat und Patriotismus eine Lizenz zur Bereicherung verschaffte. Die Korruption hat unter Putin erschreckende Ausmaße erreicht.

Noch lastet das Volk das Staatsversagen Putin nicht persönlich an, doch wie lange lässt sich der Spagat zwischen Bürger und Bürokratie aushalten? Unter Putin hat sich die Gesellschaft vom Staat ganz abgekehrt. Gegen die Verheißung von Stabilität verzichtete ein Teil freiwillig auf Mitwirkung. Andere wurden zum Abdanken gezwungen. Die Duma, der Föderationsrat, die Parteien, potenzielle Herausforderer. Die elektronischen Medien verkamen zu Propagandainstrumenten. Als Allheilmittel gegen den Terrorismus streicht Putin nun die Wahl der Gouverneure in den Regionen und die Direktkandidaturen für die Duma. Die Macht ist zynisch, und Beslan bot einen willkommenen Anlass, die Reste der Demokratie beiseite zu räumen. Nun steht nur noch deren Fassade. Als Kulisse ist sie indes unverzichtbar.

Denn Putin hat zwei Gesichter, eins für den Export und eins für den Hausgebrauch. Bedenken westlicher Politiker weiß er geschickt zu zerstreuen: Jedes Land habe das Recht auf einen eigenen Weg zur Demokratie! Auch für die Zivilgesellschaft macht er sich stark, nur versteht Putin unter Bürgergesellschaft etwas anderes: Bürgerbrigaden sollen demnächst wieder ein wachsames Auge auf den Nachbarn werfen. Seit dem Geiseldrama macht Putin mobil, denn Russland sei von außen bedroht und befände sich im Krieg.

Unter Putin hat sich die russische Gesellschaft vom Staat ganz abgekehrt

Der stellvertretende Leiter der Präsidialkanzlei, Wladislaw Surkow, führte dies letzte Woche im Boulevardblatt Komsomolskaja Prawda näher aus. „Eine fünfte Kolonne aus linken und rechten Radikalen“ sei am Werk, „die alles an Putins Russland hassen“ und von derselben ausländischen Quelle unterstützt würden. „Wir kommen ohne sie aus“, meinte Putins Vertrauter. In der Sprache des Geheimdienstes heißt dies: Der Feind steht im Westen, dessen „fünfte Kolonne“ aus Liberalen im Land.

Der Kampf um den Kreml ist entschieden. Geheimdienst und Sicherheitsstrukturen haben die letzten Liberalen aus der Bastion vertrieben. Nun werden nur noch die KGB-Kollegen dem Präsidenten soufflieren, gegen die er sich ohnehin nie durchsetzen konnte. Der Status einer privilegierten Geisel ist ihm gewiss. Immerhin hat er es geduldet, als sich die handverlesenen Vertrauten die wichtigsten Direktorenposten in staatlichen Konzernen sicherten. Damit droht dem System auch von Seiten einer kapitalistischen Großbourgeoisie kein Widerspruch mehr. Eine Allianz aus Geheimdienst, Militär, Bürokratie und Kapital bildet die neue herrschende Klasse mit dem Volk als Manövriermasse.

Vor 150 Jahren bezeichnete Karl Marx diese Regierungsform als Bonapartismus. Sie zeichnete sich dadurch aus, die Anarchie im Namen der Ordnung selbst zu erzeugen. Heute ist es das Wesen des Putinismus.