Der Weg ist frei für neue Zeiten

Krenz nimmt für sich in Anspruch, einer der Väter des unblutigen Montags zu sein

VON NICK REIMER

Dieser Tag bringt die Wende. 48 Stunden später gewinnen die Kronprinzen im Politbüro die Oberhand über die Betonköpfe. Weitere zwei Tage später, wird Egon Krenz erklären, ab sofort gibt es Dialog mit statt Gewalt für die Demonstranten. Und in der Woche darauf ist die Uhr für Erich Honecker abgelaufen. Der Weg ist frei für neue Zeiten. Was also ist geschehen, am jenem 9. Oktober 1989?

Berlin, Anfang September, Lagebesprechung bei Stasi-Chef Erich Mielke. „Genosse Minister, ich würde sagen, natürlich ist die Gesamtlage stabil“, urteilt Oberst Dieter Dangrieß. „Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?“, fragt Mielke aufgebracht zurück. Obwohl er sich einen der umfassendsten Machtapparate der Welt gezimmert hat, fürchtet der Stasi-Chef immer noch einen neuen Arbeiteraufstand wie den von 1953. Oberst Dangrieß sucht zu beruhigen: „Der ist morgen nicht, der wird nicht stattfinden, dafür sind wir ja auch da.“

So geht das nun schon seit Wochen. Ein nervös gewordener Staatsapparat steht unter immensem psychischem Druck. Ausgerechnet jetzt, da die SED sich selbst und 40 Jahre DDR zu feiern gedenkt, läuft die Sache aus dem Ruder. Zuerst war die Bruderpartei in Ungarn vom wahren Glauben abgefallen, und hatte die Grenze geöffnet – auch für DDR-Bürger. Dann sorgten die Bilder aus den überfüllten Botschaften für negative Schlagzeilen. Honecker war gesundheitlich schwer angeschlagen, das Politbüro wirkte führungslos, wie paralysiert: Jede Entscheidung, die das Ruder zurück in die eigene Hand geben sollte, bewirkte nur das Gegenteil. Und jetzt kam auch noch das Problem mit den Montagsdemonstranten dazu.

Von Woche zu Woche war der Demonstrationszug angeschwollen. Von 1.000 auf 2.500 auf 8.000. Die Leute ließen sich einfach nicht mehr einschüchtern. Aber: Vor dem Republikgeburtstag am 7. Oktober konnte man schlecht „die chinesische Lösung“ praktizieren. Das hätte doch die ganze Feier verdorben.

In der letzten Woche waren 20.000 auf den Straßen Leipzigs. Wie viele werden es diesmal – am 9. Oktober – sein? Mehr jedenfalls. Den Strategen in der SED-Etage war klar: Wenn wir die Sache jetzt nicht in Griff bekommen, wird sie zu einer Lawine.

Der Einsatzbefehl des Tages, von Erich Honecker unterzeichnet: „Die konterrevolutionären Demonstrationen mit aller Gewalt niederwerfen.“ Umzusetzen hat diesen Befehl Egon Krenz, im Zentralkomitee der SED für Sicherheitsfragen zuständig. Im Juni hatte der Stellvertreter Honeckers in China die Gewalt gegen Demonstranten auf dem Platz des Himmlischen Friedens so erklärt: Es sei „etwas getan worden, um die Ordnung wiederherzustellen“.

Darauf scheint es nun auch in Leipzig hinauszulaufen. Kinder müssen an diesem Tag bis 15 Uhr aus Hort oder Kindergarten abgeholt sein. Die Bürger sind aufgefordert, „den Bereich der Innenstadt zu meiden“. Westlichen Journalisten ist der Zugang zur Stadt verboten. Im Krankenhaus werden Betten freigeräumt. Tausende Blutkonserven werden gelagert. Ärzte erhalten Anweisung, sich „in Bereitschaft“ zu halten. Im Süden der Stadt wird ein Speziallager errichtet. Die Bereitschaftspolizei – nichts anderes als Armeeverbände „gegen den Feind im Innern“ – legt Helme, Knüppel, Gasmasken an. Hinter dem Hauptbahnhof wird scharfe Munition ausgeteilt. Nahe dem Gewandhaus werden Maschinengewehre entladen. Im Norden der Stadt halten sich Panzer bereit.

All das bleibt nicht so unbemerkt, wie es von der Einsatzleitung gewünscht wird. Entsprechend wächst die Sorge bei den Leipzigern. Etwa bei Kurt Masur, Gewandhauskapellmeister und in jenen Tagen eine unabhängige moralische Instanz, die auf beiden Seiten akzeptiert wird. Masur ruft Bernd-Lutz Lange, Kabarettist, den Theologen Peter Zimmermann und die drei SED-Bezirkssekretäre Roland Wötzel (zuständig für Volksbildung), Kurt Meyer (für Kultur) und Jochen Pommert (Propaganda) zu sich, um zu überlegen, was zu tun sei.

Natürlich ist den SED-Kadern unwohl bei der Sache – schließlich gibt es klare Anweisungen aus Berlin. Aber Erstes hat sich der SED-Chef des Bezirks Leipzig krank gemeldet – was ein Chaos in der Führungsstruktur zu Folge hat. Zweitens hat Berlin offenbar die Vorgänge in Dresden gebilligt. Tagelang hatte es dort schwere Ausschreitungen gegeben, bis am Vortag zum allerersten Mal Demonstranten und Polizei miteinander sprachen. Die Demonstranten hatte 20 Vertreter – die „Gruppe der 20“ – aus ihrer Mitte gewählt, die heute zum ersten Mal von SED-Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer empfangen worden waren. Dafür gerüffelt wurde Berghofer nicht.

Nach Dresdner Vorbild gründen die sechs in Leipzig eine Gruppe, verfassen einen Aufruf, der zuerst in den Kirchen, dann über die Lautsprecher des Stadtfunks verlesen wird: „Keine Gewalt“. Währenddessen läuft im Hintergrund ein hektisches Verhandlungsspiel gegen die Zeit. Tatsächlich wird dann gegen 18 Uhr die Bereitschaftspolizei von der Demonstrationsstrecke abgezogen. Tatsächlich kreisen die Demonstranten Provokateure in ihren Reihen selbst ein und isolieren sie. Tatsächlich sind überall auf den Dächern Scharfschützen postiert, die aber nicht schießen. 70.000 ziehen durch die Stadt. Danach gehen 70.000 nach Hause. Nicht einmal Verhaftungen gibt es.

„Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?“, fragt Mielke. „Nein, dafür sind wir ja da“

Egon Krenz wird für sich später in Anspruch nehmen, einer der Väter des unblutigen Montags zu sein: „Ich war in Leipzig und habe dort erklärt: Wir sind dafür, politische Konflikte auch politisch zu lösen. Und ich habe dort in Leipzig mitgeholfen, dass diese Dinge auch so gelöst worden sind.“ Abgesehen von einem Telefonat mit der Einsatzleitung – geführt 19.15 Uhr – ist das nicht aktenkundig belegbar. Belegbar aber ist, dass sich Krenz am Vorabend von Stasi-Chef Erich Mielke eine neuen Politik „ohne Gewalt gegen Demonstranten“ genehmigen ließ.

Die Entscheidungen für Leipzig fielen in Leipzig: Der Sekretär der SED-Bezirksleitung Helmut Hackenberg – durch die Krankheit seines Chefs ranghöchster Funktionär – hatte sich mit einer Lagebeschreibung nach Berlin gewandt, erhielt aber erst lange, nachdem sich die Demonstration von selbst aufgelöst hatte, eine Antwort. Unter dem Druck der „Gruppe der Sechs“ – und weil sie nicht die Verantwortung eines Blutbads übernehmen wollten – beschlossen Hackenberg und der Leipziger Polizeichef Generalmajor Gerhard Straßenburg die Sicherheitskräfte zurück zu ziehen.

Eine Wende in gleich dreierlei Hinsicht: Wie perfekt der Sicherheitsapparat auch war – erstmals gibt der Staat an jenem Tag die Gewalt gegen seine Bürger auf. Zweitens markiert der 9. Oktober jenes Datum, an dem die Menschen ihren Anspruch auf politische Mitbestimmung so lautstark artikulierten, dass die SED Reformen nicht länger verhindern kann. Drittens ist der 9. Oktober das Ende von Erich Honecker. Zwei Tage später nämlich gewinnt in der Machtzentrale – dem Politbüro – die Gruppe um Krenz die Oberhand. Die alten Betonköpfe um Honecker, Günter Mittag oder Joachim Hermann verlieren nicht nur den Taktstock, sondern auch den Zugang zum Orchester.

Den Wechsel fädelt Stasi-Chef Erich Mielke ein, mit 81 Jahren nicht nur der Älteste im Politbüro, sondern auch jener, der die Klaviatur der Macht am besten beherrscht. Die Partei laufe Gefahr, in ihrer absoluten Macht beschädigt zu werden, wenn sie jetzt nicht ein paar Führungsfiguren opfert, so Mielkes Argumentation.

Kurz darauf wird Erich Honecker abgesetzt. Egon Krenz gilt als Idealnachfolger, als ideologischer Enkel, der zumindest eine Zeit lang die orthodoxe Politik beibehalten wird. Allerdings übersieht der Greis zwei Dinge: Jetzt, da die Staatsmacht auf die Linie von Krenz einschwenkt und nicht mehr gegen Demonstranten knüppelt, steigt der Druck der Straße explosionsartig. Am folgenden Montag verdoppelt sich die Zahl der Montagsdemonstranten in Leipzig, am darauf folgenden kommen 300.000. Und auch in anderen Städten demonstrieren jetzt zehntausende. Gegen Egon Krenz.