Der Sound der Theorie

Es geht um das neue PDS-Programm. Die Genossen schenken sich nichts. Nicht einmal ihre Floskeln

Es wird ausgiebig Textexegese zum Zweck gegenseitiger Vorwürfe betrieben

aus Chemnitz JENS KÖNIG

Der graue Klotz steht ganz hinten links im Saal. Er ist kastenförmig und nicht besonders groß. Er sieht nicht so aus, als könnte ihn irgendjemand jemals verrücken. Er steht mit Sicherheit schon fünfzig Jahre hier, genau an dieser Stelle, in der Stadthalle von Chemnitz. In dem Kasten sitzen zwei Frauen. Sie haben Kopfhörer über ihren Ohren, kleine Mikros hängen vor ihren Mündern. Sie bewegen unablässig ihre Lippen. Stundenlang, ohne Pause. Aber kein einziges Wort dringt aus dem Kasten nach draußen.

Die beiden Frauen sind Dolmetscherinnen. Vielleicht übersetzen sie das theoretische Kauderwelsch, das auf dem PDS-Parteitag gesprochen wird, für die internationalen Gäste. Möglicherweise ist Uladzimir Strakh, der stellvertretende Vorsitzende der weißrussischen Arbeiterpartei, ja wirklich daran interessiert, dass selbst Wortgeschwader wie „Überwindung der Profitlogik des Großkapitals“ korrekt ins Russische übersetzt werden. Vielleicht übersetzen die beiden Frauen ja aber auch das neue Grundsatzprogramm in eine Sprache, die die Menschen, die durch die PDS jetzt von Unterdrückung und Gewalt befreit werden sollen, verstehen. Notwendig wäre es jedenfalls.

Die Programmdiskussion in Chemnitz führt zwangsläufig dazu, dass man den Überblick verliert. Vor lauter Sozialismus-Definitionen verschwimmt einem alles vor Augen. Nach drei, vier Stunden weiß man nicht mehr, auf welchem PDS-Parteitag man gerade ist, auf dem des Jahres 2003 oder doch dem von 1999. Die Argumente, die Kontrahenten, der Sound der Debatte – seit Jahren hat sich scheinbar nichts verändert. Sahra Wagenknecht sieht immer noch so aus wie früher. Man muss sich den Streit über das neue PDS-Programm, der seit sechs Jahren läuft und der mit der Verabschiedung nicht zu Ende sein wird, als eine Art Zehnstundenfilm von Lars von Trier vorstellen: Man kann im Kino rein- und rausgehen, wann man will, man hat nie das Gefühl, vom Film wirklich etwas zu verpassen.

Wahrscheinlich hat sich Gregor Gysi deswegen den Parteitag in Chemnitz geschenkt. Aber die PDS-Führung wollte auf Gysi nicht ganz verzichten, weil er immer noch der einzige Genosse ist, der keinen Dolmetscher braucht und über den fernen Sozialismus so reden kann, dass ihn jeder auf der Straße auch versteht. Also hat Parteichef Lothar Bisky seinen Freund Gysi überredet, er möge vor dem Parteitag, auf dem Marktplatz von Chemnitz zu den Massen sprechen. Ein kleiner Gysi-Parteitag gewissermaßen. So wie früher. Da war für die PDS sowieso alles besser.

Sonnabendmorgen um 9 Uhr weht ein kalter Wind auf dem Neumarkt. Nur ein paar hundert Zuschauer sind gekommen, fast alle Delegierte des Parteitags. Links Galeria Kaufhof, rechts Peek & Cloppenburg, dazwischen Gysi auf einer kleinen Bühne. Er hämmert seiner Partei in Stakkatosätzen die Selbstverständlichkeiten ein, die sie in den letzten Jahren vergessen hat: Eine linke Partei dürfe nicht nur sagen, was alles nicht geht. Es reiche auch nicht, nur Visionen fürs nächste Jahrtausend zu formulieren. Gysi fordert konkrete Alternativen zu Schröders Agenda 2010, seriös durchgerechnet und populär vermittelt. „Hört auf mit dem ideologischen Geschwätz“, fordert er, „das geht mir auf die Nerven.“ Gysi sagt in 30 Minuten alles, was zur Krise der PDS zu sagen ist. Die Delegierten könnten rüber in die Stadthalle laufen, das neue Programm beschließen und nach Hause fahren.

Die Delegierten unterziehen sich jetzt aber lieber einer Lieblingsübung der Linken: einer leidenschaftlichen Theoriedebatte. 20 Stunden wird über das neue Grundsatzprogramm diskutiert. Fast 600 (!) Änderungsanträge liegen vor. Die PDS-Führung hatte noch vor dem Parteitag versucht, bei zwei der umstrittensten Punkte des Programms – dem Bekenntnis zum Gewinninteresse als Bedingung betriebswirtschaftlicher Effizienz sowie dem Befürworten des UN-Gewaltmonopols – durch Kompromissformulierungen den Streit abzubiegen.

Und Bisky mahnt Sonnabend in seiner Rede noch einmal kollektive Vernunft an. „Wir haben keine Zeit, stunden- und tagelang über ein Problem zu diskutieren, ohne zu einer Lösung zu kommen. Wir haben keine Zeit, Misstrauen unter uns Linken zu pflegen. Ich bin es Leid, immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, wir wollten ein sozialdemokratisches Programm verabschieden.“

Es hilft alles nichts. Der Parteitag folgt der irrationalen Flügellogik. Es wird ausgiebig Textexegese zum Zweck gegenseitiger Vorwürfe betrieben. Die Programmbefürworter betonen trotz des Bekenntnisses zur Marktwirtschaft dauernd den sozialistischen Charakter des Papiers (Dialektik!). In dieser Logik ist selbst noch die Erhöhung der Kita-Gebühren durch die rot-rote Koalition in Berlin ein Schritt auf dem weiten Weg hin zum Sozialismus. Die Orthodoxen und Traditionalisten hingegen wittern überall Verrat: Verrat am Pazifismus der PDS, Verrat an deren antikapitalistischem Kurs, Verrat an der DDR.

Aber diesmal folgt die Partei ihnen nicht. In einer Mischung aus Müdigkeit und innerer Überzeugung lehnt die Mehrheit fast alle Änderungsanträge der Programmkritiker ab. Die 400 Delegierten von Chemnitz, die dieselben des Chaos-Parteitages von Gera sind, beschließen damit genau das Gegenteil dessen, was sie vor einem Jahr noch gut und richtig fanden.

In anderen Parteien heißt das Realpolitik. In der PDS heißt das demokratischer Sozialismus.