Nur der Fußball trennt sie noch

aus Porto Alegre GERHARD DILGER

Weiträumig ist das frisch renovierte Rathaus von Porto Alegre abgeriegelt. Während die Honoratioren der regierenden Arbeiterpartei PT mit dem angereisten Ehrengast Luiz Inácio Lula da Silva zu Mittag essen, versammeln sich hinter den Sperrgittern knapp hundert Menschen. Die eine Hälfte protestiert mit Transparenten wie „Lula, brich mit dem Internationalen Währungsfonds und regiere für die Arbeiter“, zieht aber irgendwann frustriert von dannen. Unter den anderen, den Lula-Fans, ist Justiniano Rodrigues. „Das Leben ist teurer geworden“, antwortet der 67-jährige Rentner auf die Frage, was sich für ihn verändert habe. „Aber ich glaube an Lula und werde ihn wieder wählen.“ Rodrigues harrt aus, bis der Präsident vor seinem Weiterflug seinen Getreuen die Hand schütteln kommt.

Die Euphorie wie bei seinen Wahlkampfauftritten vor Jahresfrist ist verflogen. Landlosen-Aktivisten kritisieren Staatschef Lula, wenn auch bislang hinter vorgehaltener Hand. Geschickt hat der die in Porto Alegre besonders zahlreichen Parteilinken zum Verstummen gebracht: Exbürgermeister Raul Pont etwa, ein konsequenter Lula-Kritiker, darf heute ohne parteiinterne Vorwahl erneut in der südbrasilianischen PT-Hochburg antreten.

Warten auf Lulas Wagemut

Genau ein Jahr nach seinem fulminanten Wahlsieg ist das internationale Renommee Lulas, der heute auch seinen 58. Geburtstag feiert, ungebrochen. Im spanischen Oviedo erhielt er am Freitag den Prinz-von-Asturien-Preis, selbst als Anwärter für den Friedensnobelpreis wurde er gehandelt. Der christdemokratische IWF-Chef Horst Köhler traut dem ehemaligen Werkzeugmacher und Gewerkschafter eine tropische Version von Ludwig Erhards „sozialer Marktwirtschaft“ zu. Boliviens linksnationalistischer Oppositionsführer, Evo Morales, steht ebenso zu Lula wie die Prominenz der Globalisierungskritik von Antonio Negri bis Immanuel Wallerstein. Tony Blair oder Frankreichs Sozialisten erhoffen sich von ihm neue Impulse für die erschlaffte Sozialdemokratie (siehe Kasten). Und immer noch 70 Prozent der BrasilianerInnen schätzen ihren Staatschef.

„Ich weiß, wir haben nicht einmal ein Prozent von dem erreicht, was wir uns vorgenommen haben“, sagte Lula vor zwei Wochen in einem seltenen Anflug von Selbstkritik. Ob Wirtschafts-, Umwelt- oder Sozialpolitik, statt des versprochenen Wandels setzte er den Kurs seines Vorgängers Fernando Henrique Cardoso fort, um das Vertrauen der Finanzmärkte zu erhalten. Mit Erfolg: Mit 12 Prozent Realzinsen werden dem Spekulationskapital unverändert traumhafte Renditen garantiert. Woche für Woche setzen die neoliberalen Macher um Finanzminister Palocci neue Duftmarken, mal durch Kürzungen im Gesundheitsetat, mal durch Steuerbefreiungen für Anleger. Cardoso kommentiert heute süffisant: „Ich dachte, Lula hätte ein anderes Projekt als ich.“

Die Hochzinspolitik verschärft die Stagnation, die Arbeitlosigkeit steigt, die Reallöhne sinken. Und auch beim Kampf gegen den Hunger, dem Leitmotiv all seiner Reden im Ausland, sind die Erfolge bescheiden: Erst vor einer Woche leitete Lula die überfällige Zusammenführung der staatlichen Zuschüsse für Arme unter einem Dach ein. Von einer Steuerreform oder anderen Strukturmaßnahmen ist weiter keine Spur.

Mit „Vorsicht“ und „Wagemut“ wolle er agieren, hatte Lula in seiner Antrittsrede angekündigt. Auf den Wagemut warten die BrasilianerInnen bis heute. Lula zehre von dem politischen Kapital, das er 25 Jahre lang angehäuft habe, analysiert der argentinische Soziologe Vicente Palermo. Er habe, wenn auch „mit einem Schuss Populismus“, als Parteipolitiker „repräsentative Bande“ im alten Stil aufgebaut. Doch gerade dort, unter Gewerkschaftern, progressiven Katholiken oder Kleinbauern, ist die Enttäuschung am größten: „Wir müssen eine vierte Macht, die Volksmacht begründen“, sagt der Bauernaktivist und PT-Abgeordnete Frei Sérgio Görgen. „Lula sucht Zuflucht im eigenen Mythos, und der macht Politik unmöglich“, ätzt der Soziologe Chico de Oliveira.

Anders verhält es sich mit Néstor Kirchner, Lulas argentinischem Kollegen. Dort, in Buenos Aires, stand der peronistische Gouverneur der Patagonien-Provinz Santa Cruz lange im Schatten seiner Frau Cristina, einer linksliberalen Senatorin. Bei der Präsidentenwahl vor einem halben Jahr kam er als politischer Nobody gerade einmal auf 22 Prozent. Doch seine scheinbare Konturlosigkeit erwies sich gegenüber dem neoliberalen Polarisierer Carlos Menem als Vorteil: Tage vor der Stichwahl kniff der chancenlose Expräsident.

Herr K. macht Ernst

Seither hat der schielende, linkisch wirkende „Herr K.“, dessen Vorfahren aus Deutschland und der Schweiz stammen, die Herzen der ArgentinierInnen im Sturm erobert. Auf seinen Reisen in die Provinz stürzt er sich noch immer in begeisterte Menschenmengen, als habe der Wahlkampf gerade erst begonnen. Er agiert mit einer Beherztheit, die den gerade fünf Jahre älteren Lula wie einen Elder Statesman erscheinen lässt. In Argentinien hat ihm das den Spitznamen „Hurrikan“ eingebracht.

Noch im Mai schickte er korrupte Polizeichefs in den Ruhestand, ebenso wie einen Großteil der führenden Militärs, die ihre Posten unter der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 erhalten hatten. Auch mit dem Obersten Gerichtshof, bislang fest in menemistischer Hand, legte er sich erfolgreich an: Letzte Woche musste bereits der dritte hohe Richter seinen Hut nehmen. Im Rentenfonds Pami, einem Hort gewerkschaftlicher Vetternwirtschaft, rollen ebenfalls Köpfe. Solche Maßnahmen verleihen Kirchners Versprechen, ein „seriöses“ Land aufbauen zu wollen, Glaubwürdigkeit. Hebe de Bonafini von der Menschenrechtsgruppe „Mütter der Plaza de Mayo“ staunt: „Kirchner ist anders.“

Gut kamen zu Hause auch seine selbstbewussten Auftritte in Europa und den USA an: EU-Kommissionspräsident Romano Prodi und spanischen Unternehmern bot er Kontra, als sie kräftige Erhöhungen der Wasser-, Strom-, Gas- und Telefongebühren einforderten – die privatisierten Betriebe werden von europäischen Firmen kontrolliert. „Diese Proteste haben etwas Verlogenes“, so Kirchner in Madrid – schließlich hätten die Betriebe in den 90er-Jahren üppige Dollar-Gewinne an ihre Mutterhäuser überwiesen. Wegen fehlender Investitionen häufen sich die Ausfälle in der Vorsorgung, sodass die Regierung heute über die Neuausschreibung von Konzessionen der Wasser- und Strombetriebe nachdenkt.

Beim IWF erzwang Kirchner im September ein günstiges Umschuldungsverfahren, indem er die Zahlungen aussetzte: Die privaten Gläubiger in Europa, Nordamerika und Japan, die seit fast zwei Jahren mit einem argentinischen Moratorium leben müssen, sollten sich mit einer 25-prozentigen Rückzahlung begnügen. Vor drei Wochen sagte er einen Staatsbesuch in Deutschland, der Schweiz und Italien ab – aus Angst vor Pfändung seines Dienstflugzeugs „Tango 01“.

Zwei Herzen, eine Seele

Dass Kirchner beim Tauziehen mit dem IWF ausgerechnet aus Brasília kein Wort der Unterstützung vernahm, wurde in Argentinien erstaunt registriert. Auch bei der Verkündung des „Konsenses von Buenos Aires“ vor zehn Tagen, der als sozialer Kontrapunkt zum neoliberalen „Washington-Konsens“ gedacht ist, entschärften die Brasilianer die Passage zur Auslandsverschuldung. Nichts spricht bisher dafür, dass Lula jenen Sparkurs lockern will, dem er seine Sozialpolitik opfert.

Dennoch verstehen sich die beiden ungleichen Präsidenten besser als all ihre Vorgänger. Auf dem Flug nach Patagonien waren sie in einem gemeinsamen Interview gegenüber der Tageszeitung Página 12 ein Herz und eine Seele. Lula skizzierte seine Außenpolitik, die selbst linke Kritiker versöhnlich stimmt. Und Kirchner postulierte: „Argentinien und Brasilien müssen anders behandelt werden, sodass die Abkommen, zu denen wir im internationalen Rahmen kommen können, uns nicht neue Haushaltsengpässe aufzwingen.“ Die Lateinamerikaner, so Lula, wollten den Industrieländern vorschlagen, 20 Prozent der fälligen Zinsen für den Schuldendienst ins Bildungswesen und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu stecken – und die großen Geldgeber USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland müssten den IWF zu einem Kurswechsel bewegen.

Überzeugend, weil durch Vermittlungsinitiativen in Venezuela, Kolumbien und Bolivien belegt, klingt das Plädoyer des Brasilianers für den „Friedenskontinient Südamerika“. Auch die selbstbewusste Verhandlungsführung innerhalb der WTO und über die von Washington gewünschte panamerikanische Freihandelszone FTAA ist Realität. Dabei zumindest, das zeigt die Entwicklung der letzten Monate, steht die strategische Achse Buenos Aires–Brasília bereits fest. „Nur der Fußball trennt uns noch“, scherzte Corinthians-Fan Lula gut gelaunt, aber auch dafür gebe es einen Ausweg: „Eines Tages lassen wir eine Mercosur-Auswahl gegen die EU antreten.“