Wider den Denkmalschutz

Der türkische Trainer Ersun Yanal wagt es, den langjährigen Kapitän Hakan Sükür aus dem Aufgebot zu streichen. Beim 4:0-Sieg gegen Kasachstan wurde der „Bulle vom Bosporus“ nicht vermisst

AUS ISTANBUL TOBIAS SCHÄCHTER

Es war ein Auftritt, wie ihn sich jeder frei gewählte Politiker erträumt. Als Recep Tayyip Erdogan samt Entourage fünf Minuten vor dem Ende die Ehrentribüne des „Sükrü Saracoglu“-Stadions verließ, ließen lobpreisende „Erdogan, Erdogan“-Rufe den Abgang des Staatslenkers zum Triumphzug werden. 50.000 Türken feierten ihren Ministerpräsidenten als den Mann, der durch seinen Reformwillen in die Annalen eingehen wird, nachdem letzte Woche die EU-Kommission Beitrittsverhandlungen mit der Türkei empfohlen hat.

Der Auftritt des ehemaligen Sesamringeverkäufers war der Höhepunkt eines wenig berauschenden Fußballabends in der Heimstätte von Fenerbahce Istanbul. Denn auch die beiden Tore in der Nachspielzeit, die das Ergebnis zu einem erklecklichen 4:0 für die Türkei über Kasachstan hochschraubten, vermochten keine eindeutige Zeichen zu liefern, ob das „Reformprojekt Nationalmannschaft“ unter der Regentschaft des neuen Trainers Ersun Yanal tatsächlich in der Teilnahme für die Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland münden wird.

Zu wenig Glanz versprühte der klare Erfolg gegen einen Gegner, der nun wahrlich kein Maßstab war, wie nicht nur der ehemalige Galatasaray-Coach Kalli Feldkamp fand, der dies gestern als Kolumnist für die Leser der Zeitung Zaman wissen ließ. Die Verunsicherung unter den Fußballverrückten vom Bosporus bis zum Schwarzen Meer bleibt. Das Scheitern in der EM-Qualifikation gegen Lettland letzten November kostete nämlich nicht nur Trainer Senol Günes den Job. Noch vor zwei Jahren glaubte man nach dem dritten Platz bei der WM in Asien an ein Dasein auf Augenhöhe mit den etablierten Fußballgroßmächten. Doch die Schmach gegen Lettland lastet wie ein Trauma auf der Seele der Fußballnation.

„War dies die Wende?“, fragten sachliche Kommentatoren denn gestern auch eher ungläubig. Zu krampfig mutete die Vorstellung der Milli Takim an gegen die ab Minute 70 von Krämpfen geplagten Kicker aus Kasachstan. Holprig auch verlief bis dahin der Start in die WM- Qualifikation mit zwei mageren Unentschieden gegen Georgien und in Griechenland.

Am Wochenende stimmte zumindest das Ergebnis optimistisch für die richtungweisende Partie am Mittwoch in Dänemark. Der Druck auf Yanal war schlagartig gestiegen, nachdem dieser so etwas wie eine Revolution ausrief. Mutig strich er den bisher unter Denkmalschutz stehenden Kapitän Hakan Sükür aus dem Aufgebot. Die öffentliche Meinung präsentierte sich in dieser scharfen Debatte um das Schicksal der lebenden Legende gespalten. „Es geht nicht um Personen, es geht um die Mannschaft und um Taktik“, erklärte Yanal am Samstag noch einmal seinen Schritt, den „Kral“ – den König – und Rekordtorschützen nach 97 Länderspielen auszubooten.

„Der Bulle vom Bosporus“, wie der hünenhafte Sükür auch genannt wird, ist ein Stürmer alter Prägung. Seine Stärken hat er als Flankenverwerter und Anspielstation. Aber Yanal, dem 42-jährigen Trainer, schwebt ein Spiel vor, in dem die Angreifer durch Laufarbeit und Einsatzwillen schon früh die Aufbauversuche des Gegners zu unterbinden suchen und aktiv am Offensivspiel teilnehmen. Doch für die Ausbootung des 33-Jahre alten Sükür sind taktische Gründe allein wohl nicht ausschlaggebend. Yanal bevorzugt flache Hierarchien.

Sükür aber gilt als Polarisierer, stand der gläubige Moslem doch bisher der Fraktion der rein türkischstämmigen Spieler vor, die mit den in Europa aufgewachsenen Kollegen und deren Lebensart wenig anfangen können. „Das ist wohl mein endgültiger Abschied“, glaubt Sükür folglich, der sich ansonsten bedeckt hält. Sükür verfügt über eine große Lobby im Verband. Opportunismus lässt sich Yanal daher nicht vorwerfen. Vielmehr ist in dieser Maßnahme der Wille zu erkennen, eine Philosophie auch gegen interne Widerstände durchzusetzen. Yanal, der dank seiner Erfolge mit dem Klub Genclerbirligi aus Ankara zum ersten Trainer des Landes aufsteigen durfte, hat sich mit der Demission Sükürs aber eine Angriffsfläche geschaffen. Zumal die neue Offensive im ersten Spiel ohne Sükür mit den klein gewachsenen Tekke, Gökdeniz und Necati noch kein Triumphzug war.

„Fußball soll vor allem schön anzusehen sein“, lautet eine von Yanals Maximen. Doch der intelligente Mann aus Izmir hat schnell gelernt: „Heute zählt vor allem das Ergebnis“, sagte er am Samstag. Nur davon hängt letztlich auch ab, ob die Milli Takim 2006 zur WM nach Deutschland reist und ihr Trainer als Triumphator in die Geschichtsbücher einziehen wird.