Demonstranten wollen Ruhm nicht teilen

Am 15. Jahrestags des 9. Oktober stritten in Leipzig Demoteilnehmer und SED-Reformer über ihren Beitrag zur Wende

LEIPZIG taz ■ Alle Vorbereitungen der Staatsmacht in Leipzig waren auf die Zerschlagung jeder Versammlung am 9. Oktober 1989 ausgerichtet. Warum hat die abendliche Demonstration dann dennoch stattgefunden, friedlich, ohne Polizeieingriff? Die Antwort auf diese Frage fiel den Teilnehmern wie dem Publikum einer Podiumsdiskussion nicht schwer, die anlässlich des 15. Jahrestages der Demo letzten Freitag stattfand – am passenden Ort, dem Sitz der Leipziger Stasi-Zentrale, dem „Runden Eck“. Diese Antwort lautete: Hätten sich statt der 70.000 nur 7.000 Menschen versammelt, die SED-Führung hätte nicht gezögert, den Einsatzbefehl zu geben. Der Gewaltverzicht war ein polizeitaktischer Rückzug angesichts des Massenprotests, nicht mehr.

Welchen Stellenwert hatte dann aber der „Aufruf der Sechs“, der, angestoßen von dem Leipziger Dirigenten Kurt Masur, zur Gewaltlosigkeit und zum Dialog aufforderte und den drei Mitglieder der Leipziger Bezirksleitung der SED unterschrieben? Darüber stritten die Diskussionsteilnehmer. Dem ehemaligen Mitglied des SED-Bezirkssekretariats und jetzigen Podiumsteilnehmer Kurt Meyer, einem Mitinitiator des Aufrufs, attestierte das Publikum zwar persönlichen Mut. Seine Entscheidung aber interpretierte es als Manöver, um das Machtmonopol der SED zu retten.

Auch nach fünfzehn Jahren standen sich auf der Versammlung unversöhnliche Positionen gegenüber. Vergeblich verwies Kurt Meyer auf seine Bemühungen, in der Leipziger Kulturpolitik den betonierten Boden zu lockern, vergeblich versuchte er begreiflich zu machen, warum er als armer Leute Kind zunächst an den Arbeiter-und-Bauern-Staat geglaubt und schließlich in Gorbaschows Perestroika die Rettung gesehen habe. Gerade ihm als Arbeiterkind, entgegneten Kritiker, hätte der ausbeuterische Charakter des SED-Regimes klar sein müssen. Er sei ein Karrierist gewesen und geblieben.

Der Historiker und Podiumsteilnehmer Thomas Hollitzer erinnerte daran, dass sich sicherlich auch viele der 70.000 Demonstranten in den Jahren zuvor angepasst hätten. Gewiss, so lautete die Antwort, aber dann hätten sie sich auf ein Unternehmen mit völlig ungewissem Ausgang eingelassen, die Teilnahme an der Demo. Traf das nicht auch für Kurt Meyer zu? Noch am 9. Oktober warf der amtierende Leipziger Parteichef dem ehemaligen SED-Funktionär Meyer Fraktionismus und Parteiverrat vor. Dann geschah etwas Unvorhergesehenes. Meyer wurde vom sowjetischen Generalkonsul zu einem Kurzurlaub eingeladen – nach Kiew.

Warum die Schärfe der Auseinandersetzung an diesem 15. Jahrestag? Weil sich die Teilnehmer der Montagsdemonstration auch noch nach so langer Zeit als Subjekte der Geschichte fühlen, nicht als Masse, sondern als frei handelnde Menschen. Wenigstens die Erinnerung hieran wollten sie mit keinem noch so ehrlichen Reformer „von oben“ teilen.

CHRISTIAN SEMLER