Die Stimmenwerber

Die Wählerregistrierung dient noch immer als Hürde, um Einwanderer von der Urne fern zu halten

AUS NEW YORK SEBASTIAN MOLL

Yanni Shen tritt ein wenig vom betriebsamen Gewusel an der Ecke Main Street und Roosevelt Avenue zurück und holt tief Luft. Das 16 Jahre alte chinesischstämmige Mädchen hat gerade mit einem etwa 60 Jahre alten Mann die zwölf Fragen des Formulars zur Registrierung für die amerikanische Präsidentschaftswahl durchgearbeitet. Der Chinese sprach kein Wort Englisch, Yanni musste ihm jede Frage geduldig erklären. Anstrengend, aber befriedigend: „Der Mann lebt seit 30 Jahren hier“, sagt sie und blinzelt dabei stolz durch ihre Brille, „und hat noch nie gewählt. Er hat mir gesagt, dass er immer wählen wollte, aber nie wusste, wie das geht und an wen er sich wenden soll.“

Yanni hat ihrem Landsmann zu einem großen Schritt in die amerikanische Gesellschaft verholfen und weiß das. Die Erfahrung ist für das junge Mädchen überraschend – das hatte sie nicht geahnt, als sie sich an der John Bowne Highschool freiwillig gemeldet hatte, um Wähler zu registrieren.

Dass die Menschen kein Englisch sprechen, ist nicht außergewöhnlich in Flushing. Hier am äußersten Ende von Queens, ist New York noch immer Schmelztiegel und von Schwindel erregender Vielfalt. Die Neonreklamen an den Bäckereien, Schnellrestaurants und Lotto-Annahmestellen sind in Spanisch oder Mandarin. Kaum ein Gesicht hat europäische Züge, zwischen Latinos und Asiaten mischen sich hin und wieder Schwarze. Die Mehrheit gehört zur ersten oder höchstens zur zweiten Einwanderergeneration und kämpft hart um die wirtschaftliche und soziale Assimilation.

So wie die Familie von Yanni Shen. Ihre Eltern sind vor 20 Jahren aus China ausgewandert. Yanni wurde in Flushing geboren, ist 16 Jahre jung und der Draht ihrer Familie zum amerikanischen Mainstream, die Brücke zum öffentlichen Leben des neuen Heimatlandes. Sie ist ein aufgeschlossenes, intelligentes Mädchen, und so zögerte sie nicht, als die unparteiische New York Public Interest Research Group (Nypirg) an ihrer Schule Helfer suchte, um in der letzten Woche vor Ablauf der Registrierungsfrist auf den Straßen New Yorks die Leute zur Wahrnehmung ihres Bürgerrechts anzuhalten.

Die Wählerregistrierung wurde in den USA einst als bürokratische Hürde mit dem kaum kaschierten Ziel eingeführt, analphabetische befreite Sklaven sowie sprachunkundige osteuropäische Einwanderer von der Wahlurne fernzuhalten. Und als solche Hürde fungiert sie noch immer: „Es ist ein Überrest aus einer anderen Zeit, mit dem wir leben müssen“, sagt Neal Rosenstein, Vorstand von Nypirg. Deshalb hat die Bürgervereinigung 20 Stände in der ganzen Stadt aufgeschlagen, an denen sie Passanten aggressiv zur Registrierung mahnt und ihnen dabei hilft, das kurze, aber komplizierte Formular zu bewältigen.

Für Melissa Reburiano ist die Erfahrung, die Yanni gemacht hat, mindestens genauso wichtig, wie die Wahlkarte, die der ältere chinesische Herr ausgefüllt hat. Melissa ist eine 26-jährige Latina der zweiten Generation, die gerade ihren Abschluss in Kulturanthropologie an der Elite-Universität Columbia gemacht hat. Nun widmet sie sich der politischen Arbeit bei Nypirg in Vollzeit. Sechs Stunden steht sie jetzt schon auf dem Bürgersteig an der Main Street in Flushing und schreit nachdrücklich in die an ihr vorbeiflutende Passantenmenge, dass sie hier und jetzt eine letzte Gelegenheit hätten, den nächsten Präsidenten der USA mitzubestimmen.

Mit etwas kratziger Stimme sagt sie über die Arbeit der jungen chinesischen Freiwilligen, die ihr hier helfen: „Es wird so viel über die Apathie der Jugend geredet, über deren Gefühl, dass sie ohnehin nichts verändern können. Hier können sie ganz handfest erleben, dass sie etwas bewirken können.“

Die Politisierung der Jugend ist das Lieblingsthema von Melissa – sie hat darüber ihre Magisterarbeit geschrieben und wenn sie nicht in Flushing Wähler registriert, bereist sie Colleges und versucht die Studenten für den politischen Prozess zu interessieren. „Die Apathie der Studenten ist noch immer unakzeptabel“, sagt sie, auch wenn sie einräumt, dass der derzeitige Wahlkampf mehr Jugendliche mobilisiert, als es seit langer Zeit der Fall war. „Es ist beinahe zynisch, aber George Bush hat sehr dazu beigetragen, dass sich die Jugend wieder engagiert.“

Werbung für einen der Präsidentschaftskandidaten darf Melissa allerdings bei ihrer Arbeit nicht machen – ihre Organisation, Nypirg, ist zur Unparteilichkeit verpflichtet. „Ich formuliere das so“, sagt sie, „ich sage den Jugendlichen, dass sie, wenn sie nicht wählen, den Politikern die Botschaft senden, dass deren Job nicht von ihnen abhängt.“ Meistens, seufzt Melissa, bekommt sie auf ein solch komplexes Argument immer wieder die Frage, was die Studenten denn nun konkret wählen sollen. Aber darauf darf sie nun einmal keine Antwort geben.

Dennoch gibt es immer wieder Ausnahmen. Entschlossen tritt der 24 Jahre alte Ecuadorianer Andres an den Nypirg-Stand und füllt geduldig das Formular zur Wählerregistrierung aus. Er habe vor einem Monat die amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten, erklärt er und dass er stolz darauf sei, nun auch seine Bürgerrechte ausüben zu können. Mit der aktuellen politischen Situation habe das nichts zu tun: „Es ist immer wichtig, zu wählen“, sagt er.

Darin stimmen ihm zwei chinesischstämmige Jugendliche zu, die augenscheinlich gerade eben volljährig geworden sind. Die Frage, warum es für sie wichtig ist, zu wählen, verstehen sie mit ihrem rudimentären Englisch erst im dritten Anlauf. „I am American“, sagt einer. Und dann: „I don’t like war – ich mag keinen Krieg.“

Beinahe 30 Kilometer westlich von Flushing in Harlem, geht es indes bei der Wählerregistrierung nicht in erster Linie um die Ausübung der fundamentalen Bürgerrechte. Wer sich am Nypirg-Stand an der Ecke 125te Strasse und Lenox Avenue, dem Zentrum des alten Harlem, registriert, tut dies, weil er Position beziehen will. Joseph Harriatt, ein etwa vierzigjähriger Schwarzer, der einen beigefarbenen Trainingsanzug und mehrere dicke Goldketten um den Hals trägt, hat sich gerade eingetragen und bleibt noch eine Weile an der Straßenecke stehen, um mit einem Freund zu debattieren:

„Mann, wenn du diesen Film von Michael Moore gesehen hast“, sagt er, „dann weißt du, was läuft. Ich meine, der Bin-Laden-Familie gehört 65 Prozent der Vereinigten Staaten; 65 Prozent Mann, ich sag’s dir.“ Sein Gegenüber, etwas seriöser gekleidet, ist skeptischer. „65 Prozent, Mann, das glaube ich nicht. Aber eins weiß ich – dieser Cheney, der ist eine echte Schlange, eine echte Schlange, sag ich dir.“

Inzwischen steht ein älterer Herr mit Brille und grauem Flanellhut bei José Mane, einem 25-jährigen Latino mit schmalen, forschen Koteletten und einer Schiebermütze, der für Nypirg hier den Stand in Harlem leitet. Nachdem der etwa siebzig Jahre alte Schwarze das Formular ausgefüllt hat, erklärt er auch, wo er im November sein Kreuz machen will: „Ich bin eingefleischter Demokrat, mein Sohn ist eingefleischter Demokrat. Zwei meiner Onkels sind in Vietnam gestorben. Mein Patensohn ist gerade aus dem Irak zurückgekommen, und er will nicht wieder hin. Es wird viel zu viel gestorben. Die Deutschen und die Franzosen haben Recht, dass sie sich da raushalten.“

José Mane, der seit Jahren als politischer Vollzeitaktivist bei Nypirg arbeitet, ist wie seine Kollegin in Flushing überzeugt, dass die Regierung Bush viele Leute in Amerika wie Wellesley McClellan, den alten Herrn, politisiert hat: „Als ich 17 war“, sagt er, „habe ich mich mit meinem politischen Engagement allein gefühlt. Wenn ich heute mit der U-Bahn fahre, redet jeder nur über Politik, jeder ist Analytiker geworden, das ist unheimlich aufregend.“

José genießt es, in diesen Zeiten politisch aktiv zu sein: „Ich meine, ich stehe hier an der 125ten Straße und bringe die Leute zum Wählen, an genau der Stelle, an der alle großen schwarzen Bürgerrechtler von Marcus Garvey bis Malcolm X gestanden haben und die Leute mobilisiert haben.“

Und wie schon in den Zwanzigerjahren und später in den Sechzigerjahren steht hier in Harlem heute an jeder Ecke ein anderer Prophet. Direkt gegenüber von José geht Daniel Irizarry auf und ab und versucht mit einem Plakat in spanischer Sprache die Latinobevölkerung Harlems dazu zu bringen, sich für die Wahl eintragen. „Die Latinos fühlen sich von keiner der beiden großen Parteien repräsentiert“, sagt der glatzköpfige Mann mit dem Bart, der eines muslimischen Imams würdig wäre. „Ich versuche ihnen zu erklären, dass sie eine Verpflichtung haben. Beteiligung am politischen Prozess ist der Anfang von Repräsentation. Es der Start eines Marathons, aber es ist ein Anfang.“