Ein Stadion ist nicht genug

Groundhopper Bernd Müllender und Oliver Thomas Domzalski wollten es wissen: Wie viele Spiele kann der Fußballneurotiker an einem Tag live sehen? Ein mittelrheinischer Weltrekord

Der gemeine Fußballfan fragt sich vorher: Gewinnt meine Mannschaft? Wird die Stimmung gut? Ganz andere, existenziellere Fragen stellen sich Marathon-Groundhopper, bevor sie zu ihrer Reise von den Wurzeln des Spiels zu den Überspanntheiten der Bundesligaspitze aufbrechen: Ist das der richtige Platz? Kommt der Schiedsrichter? Wie kriegen wir raus, wie die Torschützen heißen? Sind überhaupt 22 Spieler auf dem Platz? Dazu logistische Entscheidungen: Verzichten wir lieber auf Anpfiff oder Schlussphase? Steht das Auto in Fluchtposition? Und: Reichen Sprit und Kaffee?

Station 1: Edis Welt

10:40: Nicht von ungefähr haben wir den Nordeifelkreisliga-Clash SV Breinig gegen TV Konzen zum Ausgangspunkt unserer Expedition an die Basis des Fußballs gewählt. Ist ihm doch der sehr bodenständige Ex-DFB-Chef Egidius Braun von jeher auf besondere Weise verbunden. Um uns seinen Segen für unsere strapaziöse Unternehmung zu holen, steuern wir auf dem Weg das klösterliche Altersheim St. Augustinus in Aachen-Walheim an, in dem Egidius („Edi“) Braun jahrzehntelang allsonntäglich zur Messe aufzuspielen pflegte. Aber ach, die neue Leiterin kennt Egidius nicht als Organisten, sondern nur als „diesen Fußballgott“. Den eigentlichen Gott hat sie darüber ein wenig aus den Augen verloren – die Sonntagsmesse findet seit Monaten nicht mehr statt.

Wir jagen durch die neblige Voreifel nach Breinig und betreten die Kampfbahn punktgenau zum Einzug der Spieler. 11:00 ist Anstoß. Es ist kalt. Auch der Gegner wird fast kalt erwischt. Schon nach 12 Sekunden hätten wir beinahe das erste Kreisligator gesehen: Die erste Konzener Ballberührung ist eine spektakuläre Rettungstat des Keepers. Die Bandenwerbung zeigt, dass es bei den Sponsoren des Spielvereins 1910 Breinig e. V. nur um eine Frage geht: „Vierstellig oder fünfstellig?“ Fast alle Werbeflächen tragen noch vierstellige Postleitzahlen. Am Spielfeldrand auch drei weibliche Zuschauer – allerdings keine Spielerfrauen, sondern Spielermütter. Sie verschwinden nach der ersten Halbzeit – der Braten muss in den Ofen. In der Vordereifel wird pünktlich gegessen – und auch pünktlich getroffen: Schlag 12 Uhr fällt das 0:1. „Weiter, Männer, komm!“ – etwas anderes fällt Trainer Dreze auch nicht mehr ein. Dabei hat er ein arithmetisches Wunder versucht: Laut Homepage hat Breinigs II. Mannschaft nur zwei Angreifer – er spielt dennoch ein 4-3-3. Tabellenletzter Breinig spielt gut mit: Doch der letzte, der tödliche Pass ist zu Ehren des herzkranken Egidius durch den Bypass ersetzt worden. Viele Chancen, fast genauso viele Bälle im Vorgarten hinter dem Konzener Tor.

12:44: Abpfiff. Wieder verloren. Eine Pressekonferenz gibt es nicht. Die Presse ist schon weg. Im Auto, in abenteuerlicher Fahrt zurück zum ersten Spitzenspiel nach Aachen.

Station 2: Unsere Heimat

13:07: Ziemlich erlaubtes Parken an der Breslauer Straße. Durch wagemutiges Übersteigen eines Stacheldrahtzauns finden wir die Abkürzung und erleben gerade noch das 1:0 durch Mittelstürmer und Lehrer Bahri Conger. Er trägt als einziger goldene Schuhe.

Rasen gibt es, wie in Breinig, nur um das Spielfeld herum. Harte Asche, harte Männer, wunde Knie. Hier ist der Vitalitätsfaktor des Übungsleiters extrem: Spielertrainer Özer ordnet mit der Erfahrung seiner über 40 Jahre die Abwehr. Freundlichste Auskunft erteilt uns der Geschäftsführer von Yurdumspor, Naim Okur. Yurdum, erklärt er, heiße „Meine Heimat“: Sie ist es für mehrheitlich türkische Spieler, die einst die 2. Elf von Schwarz-Rot Aachen bildeten.

Als sie in die Bezirksliga aufstiegen, begehrten die tümelnden Vereinsfunktionäre auf und wollten die deutsche 1. Elf statt der türkischen 2. Mannschaft auf die Bezirksligaplätze schicken. Yurdumspor spaltete sich ab und eilt seither – anders als Dauerabsteiger Schwarz-Rot – von Sieg zu Sieg. Der Verband rächt sich bis heute durch Schiedsrichteransetzungen: Der betagte Referee, der eher ballförmig denn auf Ballhöhe ist, belegt grundsätzlich nicht den Foul spielenden Laurensberger mit Gelb, sondern den vor Schmerzen aufschreienden Yurdumspor-Spieler. Derart ermutigt, drehen die Laurensberger das Spiel und gewinnen mit 3:1. Gemein.

14:40: In Eile zum Auto, um es in der Nähe des Aachener Tivoli-Stadions so zu platzieren, dass wir später schnell auf die Autobahn gen Leverkusen kommen.

Station 3: Niee meeeehr zweite Liiiga …

15:02: Quasi pünktlich angekommen im zugigen Tivoli-Stadion. Hier wärmen uns – nach gastronomischer Null-Versorgung in der Kreisliga – eine erstligareife Bratwurst und der Mantel der Historie: „Aachen kann Geschichte schreiben“, hatte die Lokalzeitung notiert. Die Tabellenführung in Liga 2 winkt. Erstmals seit etwa 1763.

15:31: Endlich ein Tor für die hoch überlegenen Aachener. Dennis Brinkmann, krachend. Erstaunlich feines Alemannen-Passspiel, Trier ganz bieder. Elegant der einfache Nationalspieler Kalla Pflipsen. Emsig Hausmeister Krause in der Pause (Rasenreparatur). „Men in Black“ heißen die Aachener wegen ihrer schwarzen Trikots. Komisch nur, dass die eigenen Fans sie dauernd beschimpfen, tausendkehlig: „Schwarze Sau“. Der Schiedsrichter trägt Grün.

16:30: Lob dem halbdeutschen Alemannen Emmanuel Krontiris für sein kooperatives Timing: Sein 2:0 in Minute 75 entscheidet das Match. Auch wir nutzen die Chance: vorzeitig auf zum Parkplatz. 92,3 Kilometer nach Leverkusen, Anpfiff dort in einer Stunde.

16:41: Auf der A 4. Wir erinnern uns der Arithmetik-Kunststücke des Breiniger Trainercleverles (s. o.) und entscheiden, dass man im Baustellenbereich auch dreistellig 80 km/h fahren kann. Es geht vorbei an fußballträchtigen Abfahrten wie Weisweiler, Eschweiler und Langerwehe – hier ging die Hertha mal im Pokal ein. Unterwegs passieren wir die Stadt Köln, früher auch mal eine große Nummer im deutschen Fußball.

Station 4: Das Wunder von Bernd

17:35: Wir hetzen auf die Tribüne. Nahezu perfektes Timing. Nichts Wesentliches verpasst. Die ausverkaufte BayArena erhöht die Durchschnittszuschauerzahl unserer vier Spiele auf 9.042. Rasen scheint grüner als in Aachen (Flutlichteffekt?). Bastürk hätte das Zeug für Yurdumspor. Gladbach besser als Tabellenplatz 17. Trainer Augenthaler tadelt Luscios Hackentrick als letzten Mann. Meist sitzt er stoisch. Sobald er aufsteht, kommt sofort das DFB-Benimm-Männchen und provoziert durch Emotionsverbot Magengeschwüre. Auges Faltengesicht ist unser Beleg.

18:36: 1:0 durch Bernd Schneider; nicht überraschend für gute, manchmal abwehrlässige Leverkusener. Als eben dieser Schneider kurz vor Schluss auf der Torlinie das 1:0 rettet, sind wir sicher, das „Wunder von Bernd“ erlebt zu haben. Und wir sind uns einig: Der erneute Vizemeistertitel scheint möglich.

19:21: Abpfiff. Für den Ligaersten Leverkusen. Und für uns. Große innere Leere. Kein Spiel mehr. Wir wären gerade warm geguckt für Nachtfußballturniere, wenigstens noch für ein kleines Champions-League-Finale oder irgendein WM-Gruppenspiel. So viel Fußball in Deutschland und doch nicht genug. Zumal wir als Iron Men der Spielfeldränder zwar drei Tabellenführer, aber nur acht Tore in 360 Minuten erleben durften. Und dafür sind wir 222 Kilometer gefahren.

Fazit: Beim nächsten Mal fangen wir um 9:00 Uhr an.

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