BRANDENBURG-WAHL: BEDENKLICHES KÖPFEWACKELN IST UNANGEBRACHT
: Abstinent aus Zorn

Über die wachsende Zahl von Wahlenthaltungen zu jammern gehört zur politischen Routine. Untergründig schwingt dabei oft die Auffassung mit, die Wahlenthaltung sei das Produkt von Lethargie und mangelnder Informiertheit, schlimmstenfalls sogar von antidemokratischen Affekten. Solche Erklärungen sind stets eindimensional und falsch verallgemeinernd. Denn außer Apathie kann beispielsweise auch lodernder Zorn angesichts mangelnder Wahlalternativen zum Motiv fürs Zuhausebleiben werden. Für den Rückgang der Kommunalwahlbeteiligung in Brandenburg im Vergleich zu den beiden vorhergehenden Wahlen von 98 und 93 (wo es keine zeitgleiche Bundestagswahl gab) sind wir gut beraten, von einem aktiven, politisch überlegten Motiv der Wahlenthaltung auszugehen.

Wenn man den Zeithorizont zur Erklärung für Wahlabstinenz heranzieht, so gilt für Brandenburg, dass hier kurzfristige Motive mit mittel- und langfristig wirksamen zusammengehen. Denn die momentane Empörung über die Hartleibigkeit der SPD-Führung trifft sich mit der Einsicht über Grundkonstellationen im Osten Deutschlands, vor allem also mit dem Prozess der Entindustrialisierung, der Massenabwanderung und der Arbeitslosigkeit als Lebensschicksal. Demgegenüber haben spezifisch kommunale Probleme keine Bedeutung. Aus Untersuchungen über Wahlentscheidungen im Osten wissen wir, dass die via Massenmedien übermittelte Großpolitik den Ausschlag gibt.

Wahlenthaltung fällt dort umso leichter, wo Parteibindungen schwach entwickelt sind. In dieser Hinsicht bildet der Osten Deutschlands die Avantgarde. Während die Wahlenthalter der Linie des „rational choice“ folgten, optierten die Wähler der PDS im Gegensatz hierzu für „identity“. Identitätswähler folgen nicht einem kohärenten, praktikablen Programm, sondern optieren für die Reste eines funktionierenden sozialen Milieus inmitten der allgemeinen Entstrukturierung. Insofern war der unisono angestimmte Grabgesang für die demokratischen Sozialisten etwas voreilig. Statt bedenklichen Köpfewackelns sollte die brandenburgische Wahlenthaltung deshalb als dringende Aufforderung zum politischen Handeln verstanden werden. Bloß an wen? CHRISTIAN SEMLER