Der Druck steigt

Bislang haben die ökologisch-progressiven Kräfte in den EU-Institutionen gut zusammengespielt. Doch mehr Kompetenzen für Europa wecken die Gegenkräfte

Ins Europaparlamentziehen mehr Loyalität und Machtpolitik ein. CSU und Labour setzen den Trend

In nie da gewesener Deutlichkeit haben die Regierungschefs beim letzten EU-Gipfel die Kommission schriftlich in die Schranken gewiesen. In der Schlusserklärung heißt es: „Die Kommission wird ersucht, den Auswirkungen vorgeschlagener EU-Rechtsvorschriften auf die Unternehmen … Rechnung zu tragen. Dieser Ansatz wird erstmals bei dem bevorstehenden Vorschlag über Chemikalien zur Anwendung kommen.“ Vielleicht wird die EU-Kommission ihren Chemikalien-Vorschlag morgen noch einmal von der Tagesordnung nehmen. Denn sie tut sich schwer damit, sich von Umweltstandards zu verabschieden, um die Belastungen für die Industrie zu vermindern.

Dabei hatte sich bei den Intellektuellen und Publizisten in Deutschland gerade erst herumgesprochen, dass in Brüssel oft linkere, ökologischere Politik gemacht wird als etwa in Berlin. Noch vor wenigen Jahren galten die EU-Politiker als vernagelte Paragraphenreiter ohne jeden politischen Mehrwert. Doch das Bild stimmt nicht mehr. Oft machen die Brüsseler den nationalen Regierungen Beine, ob bei der Altauto-Richtlinie, dem Elektroschrott-Recycling, Schadstoff-Grenzwerten für Wasser, Boden und Luft, ob bei der Lebensmittelhygiene oder durch das Genmoratorium.

Besonders im Umweltschutz überholten sie locker die neoliberal getunte Koalition von Autokanzler Schröder. Und auch in Politikfeldern, in denen Brüssel eigentlich nichts zu sagen hat, eroberten sie neues Terrain. Innenkommissar Vitorino und Sozialkommissarin Diamantopoulou reizten bei Flüchtlingspolitik, Frauengleichstellung, Datenschutz und Minderheitenfragen die Grenzen ihrer Kompetenz aus – oft zum Ärger des deutschen Innenministers und seiner Kollegen aus konservativen Regierungen.

Kurs halten konnten die EU-Kommissare nur, weil sie Unterstützung vom EU-Parlament bekamen. Dessen Macht ist, von der Öffentlichkeit kaum bemerkt, mit den Reformen von Maastricht, Amsterdam und Nizza innerhalb von knapp zwei Legislaturperioden deutlich gewachsen. Viel langsamer änderte sich dagegen das Bewusstsein der Basis, der Parteivorstände, der Politstrategen und auch der Wähler. Noch die Europawahl im Sommer 1999 funktionierte teilweise nach dem Muster einer Protestwahl. Das zeigte die geringe Wahlbeteiligung, aber auch der Erfolg von Quereinsteigern wie der Touristik-Studentin Ilka Schröder oder Extremkraxler Reinhold Messner.

Doch gleichzeitig begannen die beiden großen „politischen Familien“, die Konservativen und die Sozialisten, ihre Listen gezielter nach Kriterien der Machtpolitik zusammenzustellen. Edmund Stoiber schickte mehrere altgediente Europapolitiker aufs Altenteil, die darüber nicht wenig erbost waren. Stattdessen hievte er junge ehrgeizige CSU-Frauen auf gute Listenplätze. Emilia Franziska Müller zum Beispiel dankte es ihm, indem sie im Ausschuss für Umwelt und Verbraucher brav die Fahne der Großindustrie hochhielt und den heimischen Standort schützte. Stoiber zeigte sich daraufhin seinerseits erkenntlich – Müller sitzt jetzt als Staatssekretärin im bayrischen Umwelt- und Verbraucherministerium. Einen ähnlichen Relaunch wie die Euro-CSU durchlebte auch die Labour-Gruppe in der sozialistischen Europafraktion unter Tony Blair. Altgediente Gewerkschafter wurden in die Wüste geschickt und durch New-Labour-Anhänger ersetzt.

Mit der Europawahl im kommenden Sommer wird sich dieser Trend vermutlich verstärken, mit der nächsten Vertragsreform das Europaparlament weiter an Einfluss gewinnen. Experimentierfreudige Spinner und kühne Denker werden deshalb aus den guten Listenplätzen verdrängt und durch verlässlichere Mitglieder ersetzt. Im Bewusstsein der Wähler aber bleibt die Europawahl eine Gelegenheit, politische Utopien oder Wut auf „die da oben“ auszuleben – weil sie fälschlicherweise glauben, dass ihre Wahl folgenlos bleibt.

Das Ergebnis dieser Mischung aus parteipolitischer Nüchternheit und übermütigem Wählerverhalten ist ein Parlament, das einerseits noch funktioniert wie ein Debattenclub unabhängiger Denker im 19. Jahrhundert, sich aber andererseits als Arbeitsparlament versteht, mit taktischen Bündnissen, Fraktionszwang und Tauschgeschäften. Hinzu kommt, dass in den Bereichen, in denen der Einfluss des Hohen Hauses wächst, die Abgeordneten zunehmend die nationalen Interessen mitberücksichtigen müssen. Plötzlich meldet sich die regionale Chemieindustrie, der örtliche Fischereiverband oder der Landrat des heimischen Wahlkreises. So ist es auch kein Zufall, dass sich die Zahl der Lobbyistenbüros in Brüssel in den letzten fünf Jahren verdreifacht hat.

Das Zusammenspiel ökologisch-progressiver Kräfte aus Kommission und Parlament, das in den letzten Jahren hohe Umweltstandards durchzusetzen vermochte, wird dadurch zunehmend erschwert. Die Wirtschafts- und Haushaltsentwicklung tut das Ihrige, um linke Utopien als überflüssigen Luxus in Misskredit zu bringen. In dem Maß, wie das Europaparlament in die politische Verantwortung eingebunden ist, werden die Abgeordneten weitere Spielräume verlieren. Es wird wieder einmal Zeit, umzudenken: Das wirkungsvolle Zusammenspiel von Parlament und Kommission, bei dem der Europäische Rat mit seinen Regierungschefs oft genug das Nachsehen hatte, wird so nicht weiter bestehen. Denn beides ist nicht zu haben: ein starkes Parlament, das der Europapolitik mehr Transparenz und politische Legitimität verschafft und das zugleich aus Individualisten besteht, die sich der Parteidisziplin und nationaler Loyalitäten entziehen.

Kommission undParlament sind oft fortschrittlicher als die nationalen Regierungen

Wenn das Europaparlament auch künftig seine Freiräume jenseits nationaler Interessenpolitik behalten soll, müssen vor allem die Wähler lernen, über den Tellerrand zu schauen. Nur eine kritische europäische Öffentlichkeit kann mittelfristig dafür sorgen, dass bei den Europawahlen mehr herauskommt als die Summe nationaler Miniparlamente, die eher neben- als miteinander arbeiten. Diese europäische Öffentlichkeit kann Themen setzen, die von grenzüberschreitendem Interesse sind und auf keinen Fall der Konjunkturflaute oder der Sorge um Wettbewerbsnachteile zum Opfer fallen dürfen – zum Beispiel der Gewässerschutz, die Sicherheit von Atomanlagen oder eine gemeinschaftliche Außenpolitik.

Das Europäische Parlament ist derzeit die einzige Volksvertretung in der EU, deren Bedeutung nicht abnimmt, sondern wächst. Damit die Wähler bei seiner Neuzusammensetzung gesamteuropäische Alternativen erkennen und bewerten können, müssen sich allerdings zunächst die Parteien europaweit auf verbindliche Programme einigen. Für die ökologisch-progressiven Kräfte gäbe eine solche stärkere Profilierung die Chance, europäischer Politik ihren Stempel aufzudrücken. Dann könnte das bewährte Zusammenspiel zwischen Kommission und Parlament nach der nächsten Wahl auch wieder besser funktionieren. DANIELA WEINGÄRTNER