Ganz sicher keine Ahnung

Die Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei ist von Vorurteilen geprägt – und zwar nicht nur aufseiten der Beitrittsgegner. Erst wenn wir uns das eingestehen, ist eine rationale Debatte möglich

VON CHRISTIAN SCHNEIDER

Im Vorurteil ist uns die Welt letztmals voraussetzungslos gegeben. Wie der Südländer, der Skandinavier oder der US-Amerikaner tickt, das wissen wir gemeinhin, schon bevor wir jemals einen davon zu Gesicht bekommen oder den Fuß in ein fremdes Land gesetzt haben. Irritierenderweise nimmt dieses erfahrungsfreie Bescheidwissen mit wachsender Entfernung zum behandelten Gegenstand sogar zu. Am sichersten sind wir uns bei den fremdesten Kulturen. Wo noch unbeschwert die Rede von „primitiven Stämmen“ von den Lippen geht, darf zumindest die Primitivität des Urteils als gesichert gelten. „Die Schwarzen schnackseln zu viel“, verkündete eine Achtung gebietende Vertreterin des deutschen Hochadels zur besten TV-Sendezeit: weswegen sie zu Recht mit Lustseuchen in die Grube fahren. Der Konnex von Stamm, Stammhirn und Stammtisch ist unverkennbar – und offenkundig schichtneutral. Gloria von Thurn und Taxis erntete jedenfalls mehr Beifall als Kritik, wahrscheinlich weil ihr Publikum mit „den Schwarzen“ just dieselbe Erfahrung gemacht hatte. Erfahrung? Wo eigentlich?

Erfahrung, sagt man, sei der Todfeind des Vorurteils, weil sich an ihr die realitätsferne Abgeschlossenheit unseres heimlichen Weltbilds breche. Nur – warum trauen wir dann unseren Vorurteilen meist mehr als der erlebten Wirklichkeit? Unter anderem deshalb, weil sie älter als die eigene Erfahrung sind. Vorurteile im interkulturellen Bereich sind holzschnittartig simplifizierte Verdichtungen der oft jahrhundertealten Geschichte zwischen „uns“ und „den anderen“. Wobei es weniger um die faktische Historie als um die Fantasien und Ängste geht, die „die anderen“ evozieren. Oder, anders ausgedrückt, um die kulturellen Reibungsflächen, die sie für die Projektion unserer Ängste bieten. Kollektive Ängste können eine ungeheure Zeittiefe haben. Sie bieten sich aktuellen Ressentiments als Andockstation an, sie ermöglichen es offen irrationalen Perspektiven, sich geschickt mit demokratisch klingenden Argumenten zu verbinden – womit sich wiederum Stimmen gewinnen lassen, wie auch die CDU weiß, die derzeit mit einer Unterschriftenkampagne gegen den EU-Beitritt der Türkei liebäugelt.

Zweifellos, Vorurteile sind ein Ärgernis – und gegebenenfalls eine Gefahr. Trotzdem sind sie, als Technik der Vereinfachung des komplexen Lebens, nicht nur unvermeidlich, sondern bis zu einem gewissen Grad unverzichtbar. Wenn wir solch problematische Reduktion von Komplexität aus der Position des Aufgeklärten kritisieren, sollten wir zweierlei nicht aus dem Blick verlieren: Interkulturelle Vorurteile sind als Kollektivfantasien „soziale Tatsachen“ im strengen Sinn. Und: Sie gelten auch für uns, die wir uns darüber erhaben dünken. Die aktuelle deutsche Debatte um den EU-Beitritt der Türkei beweist es. Die Argumente der Befürworter und der Ablehner sind gleichermaßen von mehr oder minder gut rationalisierten Vorurteilen, Ängsten und Ressentiments getragen. Nur dass diese Ängste halt je nach sozialem Ort und Position verschieden sind. Gilt dem einen die mit dem Beitritt gegebene Verschiebung der europäischen Ostgrenze an die Krisenregionen des Nahen Ostens und des Kaukasus als Sicherheitsgewinn, so dem anderen derselbe Tatbestand als gefährliche Schwachstelle der Verteidigung. Der Position, eine Vollmitgliedschaft der Türkei verdamme die europäische Einigung notwendig zum Scheitern, steht die konträre gegenüber, nur mit der Türkei sei sie überhaupt möglich. So geht es praktisch bis zu jedem Einzelpunkt der Agenda. Hinter vorgehaltener Hand finden sogar scheinbar unantastbare Konsensfragen wie die Ablehnung strafrechtlicher Ahndung des Ehebruchs unterschiedliche Bewertungen. Die Türkei ist derzeit der Fokus für die versammelten Projektionen Europas. Ein Sachverhalt, der Erkenntnisgewinn bringen könnte: dann nämlich, wenn es gelingt, die angeblich objektiv unwiderlegbaren „Sachpositionen“ auf das hin zu thematisieren, worauf sie – nicht nur, aber auch – gründen: Ressentiments, Vorurteile, Projektionen. Denn wenn wir uns fragen, was wir über die Türkei wirklich wissen, tun sich die berühmten Abgründe auf. Das ist zwar bedauerlich, aber normal. Was haben wir vor der Osterweiterung zum Beispiel von Lettland gewusst? Oder noch besser: Was wissen wir heute darüber? Die rationale Debatte über das mögliche Beitrittsland Türkei beginnt, wenn ihre inwendige Irrationalität aufgedeckt wird.