BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN
: Keiner besorgt es wie ein Wessi

Gelebte Ost-West-Annäherung: Seit ich meine Wohnung untervermiete, verstehe ich den Westen besser

Wenn die Dinge nicht so laufen, wie sie sollen, muss man manchmal ein bisschen nachhelfen. Die Wiedervereinigung ist so ein Fall. Ostler und Westler wollen nach einem heftigen Vorspiel vor vielen Jahren nichts mehr voneinander wissen. Abschottung ist angesagt. Nix mehr mit offenen Armen und knallenden Sektkorken. Doch ich habe jetzt die ultimative Methode der Annäherung gefunden. Untervermietung heißt das Zauberwort.

Vor einem Jahr flog ich nach Guatemala und hatte keine Lust und kein Geld, während meiner Abwesenheit Miete zu zahlen. Ich bot meine Wohnung in einer taz-Anzeige zur Untermiete an. Der einzig seriöse Anrufer war ein Mann aus dem Westen. Ein Herr Schmid aus einem kleinen Ort an der Donau, irgendwo zwischen München und Nürnberg. Sein bayerischer Dialekt klang am Telefon Vertrauen erweckend. Doch ich wollte nicht die Katze im Sack kaufen und bat Herrn Schmid, sich für eine Nacht ein Hotelzimmer zu nehmen, damit wir uns am Abend vor meinem Abflug kennen lernen könnten.

Ich war am Packen und Saubermachen, als ein untersetzter Mann Mitte 50 vor meiner Tür stand. Höflich bot ich ihm einen Stuhl an und öffnete eine Flasche Wein. So viel Zeit musste sein. Herr Schmid stellte sich als pensionierter Lehrer vor, der sich sehr für Kultur interessiere, viele Jahre nicht in Berlin gewesen sei und nach der Lektüre der Anzeige spontan beschlossen habe, sich bei mir einzumieten.

Fast entschuldigend erzählte er, dass er keine Verwandten in der DDR habe, Reisen damals in den Osten für einen beamteten Lehrer anmeldepflichtig waren und ihn suspekt gemacht hätten. Weil ich mich nicht traute, ihn in den Arm zu nehmen, führte ich ihm zum Trost meinen alten DDR-Grill und dessen Funktionsweise vor. Herr Schmid zeigte sich lernfähig und war gar nicht besserwisserisch. Mit dem Gefühl, ihm eine Dauerkarte für den Zoo zu hinterlassen, fuhr ich in den Urlaub.

Als ich zurückkam, fand ich die Wohnung so vor, wie ich sie verlassen hatte. Herr Schmid hatte sich auf einem Zettel herzlich für alles bedankt und bot an, jederzeit wieder den „Hausbesorger“ zu spielen. Hausbesorger? Das Wort hatte ich noch nie gehört. Aber ich fand, es klang hübsch, und so teilte ich ihm im Frühjahr dieses Jahres mit, dass ich im Juni nach Kuba fliege. Umgehend buchte Herr Schmid einen Nachtzug nach Berlin und überwies die Miete.

Bei meiner Rückkehr war Herr Schmid noch in meiner Wohnung. Nein, nein, er stellte keine Restitutionsansprüche. Er hatte seine Rückfahrt nur so gelegt, dass wir unsere Völkerverständigung für einige Stunden fortsetzen konnten. Bis er die entscheidende Frage stellte. „Wann fahren Sie wieder weg?“ – „Die zweite Septemberhälfte“, antwortete ich. Während ich zwei Wochen in der neutralen Schweiz war, spielte Herr Schmid wieder „Wohnen wie ein Ostler“.

Bei meiner Rückkehr fand ich im Kühlschrank einen Piccolo. Ein Willkommensgruß von Herrn Schmid. Wer sagt’s denn! Von wegen, die Zeiten, als Westler Ostlern Alkohol anboten, seien vorbei. Der Sekt ist halb trocken. Der gute Herr Schmid trinkt sicher nur trockenen und wollte mir seinen Geschmack nicht aufdrängen. Ich finde das sehr rücksichtsvoll von ihm.

Herrn Schmid ist nicht nur daran gelegen, meine Träume zu ergründen, indem er in meinem Bett schläft. Er gibt sich auch alle Mühe, mir den Westen näher zu bringen. Ohne die viel geschmähte Arroganz der Westler klärte mich der ehemalige Lehrer darüber auf, was ein Hausbesorger ist: Kurz, einer, der im Haus für Ordnung sorgt. Also ein Hausmeister. Dank meinem bayerischen Untermieter konnte ich mein Vokabular für die deutsch-deutsche Verständigung erweitern.

Nur mit der Anwendung hapert es noch ein bisschen. Als Herr Schmid mich beim letzten Mal wieder daran erinnerte, ihn über meine Urlaubspläne auf dem Laufenden zu halten, antwortete ich: „Aber gern, Herr Schmid. Solange Sie es mir nicht besorgen.“ Er machte gute Miene zum bösen Spiel und lachte herzlich mit.

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