„Der Dschihad kehrt nach Hause zurück“, sagt Gilles Kepel

Doch der radikale Islamismus hat das Problem jedes Terrorismus: Sein politischer Erfolg lässt sich nicht messen

taz: Herr Kepel, in Ihrem letztem Buch hatten Sie den Islamismus noch im Niedergang gesehen, sogar in der Krise. Neuerdings scheinen Sie sich da nicht mehr so sicher zu sein.

Gilles Kepel: Ich bin mir aber auch nicht so sicher, ob er jetzt so viel besser dasteht …

Die Dschihadisten agieren in Augenhöhe mit einer Supermacht. Ist das nicht ein Erfolg?

Im Dezember 2001 schrieb Aiman al-Sawahiri, der zweite Mann hinter Ussama Bin Laden, ein kleines Pamphlet. In den 90er-Jahren hätte die Avantgarde nicht die richtige Sprache gefunden, um die Massen zu erreichen, so sein Urteil. Sawahiri kommt aus Ägypten. Dort hatte der Krieg gegen das Mubarak-Regime in furchtbaren Blutbädern und mit der Niederlage der Dschihadisten geendet. Die neue Strategie war die Bekämpfung des „fernen Feindes“. Dieser Strategiewechsel wurde mit 9/11 für jedermann sichtbar. Das Ziel war, mit spektakulären Aktionen die Massen aufzurütteln, die mit dem Kampf gegen den „nahen Feind“ offensichtlich nicht erreicht werden konnten.

Das hat doch geklappt, oder?

Das ist fraglich. Die Macht haben die Dschihadisten nirgendwo übernommen, im Gegenteil: Das Taliban-Regime wurde gestürzt.

Interessant ist aber: Mit den Anschlägen von Taba in der vorigen Woche schwingt das Pendel retour, der Dschihad kommt zurück nach Ägypten. Dort fanden 1997 immerhin die ersten großen Terroranschläge statt. Möglicherweise hat sich die Orientierung auf den „fernen Feind“ doch als zu kurzlebig erwiesen.

Lässt sich Taba 2004 denn mit Luxor 1997 vergleichen?

Nein. In den Neunzigerjahren hatten die Islamisten in Unterägypten eine gewisse Anhängerschaft – unter Arbeitslosen und Armen. Sie hatten dort Rückzugsräume, Verstecke.

Im Sinai ist das komplett anders. Er ist im Grunde fast unbewohnt, und was es dort an touristischen Ballungsräumen gibt, ist artifiziell entwickelt worden. Niemand lebt dort, der nicht mit dem Tourismus zu tun hat.

Ist es nicht so: Weil sie Israel und Amerika ins Visier nehmen, sind die Dschihadisten bei den muslimischen Massen populär.

Das ist die Frage. Das ewige Problem des Terrorismus ist doch: Woran misst man politischen Erfolg? Betrachten wir die Entwicklung einmal aus ihrer Perspektive: Sie haben die Taliban verloren und al-Qaida wurde schwer angeschlagen, auch wenn al-Sawahiri und wahrscheinlich auch Ussama Bin Laden noch am Leben und in Freiheit sind. Andererseits ist ihnen eine Reihe spektakulärer Anschläge gelungen, in Bali, Casablanca, Istanbul, Madrid. Sicherlich haben sie den Kreis ihrer Sympathisanten ausgeweitet. Aber ob sie die Massen erreichen, ist ein anderes Thema.

Spielt der Irak nicht eine Schlüsselrolle?

Der Irak sollte das neue Land des Dschihad werden. Aber ist er es? Oder ist er nicht eher das Land der Fitna? Das steht in Arabisch für Chaos, Zerwürfnis, Zerfall der Gesellschaft – im islamischen Denken der Albtraum schlechthin. Die Frage ist, ob die durchschnittlichen Iraker dem Dschihad zustimmen, weil er sich gegen die Amerikaner richtet. Oder ob sie sich eher gegen die Gewalt wenden, weil diese die gesamte Gesellschaft zerstört. Das ist schwer abzuschätzen.

Wir dürfen auch nicht vergessen: Diese Dschihad-Strategie hat nur in den sunnitischen Regionen eine Chance. Diese erinnern heute stark an jene Regionen Algeriens, in denen die Dschihadisten in den 90er-Jahren sehr stark waren. Und die sind gescheitert, weil sich die Gesellschaft gegen sie gestellt hat.

Im Irak könnte das anders sein: Hier verbinden sich die Ziele der Dschihadisten mit einem nationalistischen Aufstand gegen die Besatzung.

Ja, und diese Strategie versuchen sie auch in Hinblick auf Israel: Gegen Amerika, gegen Israel – das sind die beiden Parolen, mit denen die Dschihadisten bei der einfachen Bevölkerung punkten können.

Wenn man die Texte von Dschihad-Theoretikern wie al-Sawahiri liest, fühlt man sich stark an westliche Revolutionstheorien erinnert. Da ist von der Avantgarde die Rede und der Sorge, sie könne sich von den Massen isolieren. Das klingt ja wie bei …

… Baader-Meinhof …

… oder bei Lenin!

In den Siebzigerjahren waren Gruppen wie die RAF oder die Roten Brigaden der Meinung, die Massen wären in tiefem Schlaf versunken, die Avantgarde müsse sie wachrütteln. Daran fühlt man sich mit Recht erinnert. Andererseits spielen Islamisten auf einem viel weiteren Klavier. Sie bieten ganzen Kohorten junger, verarmter, zukunftsloser Menschen eine Weltanschauung an.

Ist der Gedanke von der Avantgarde und den Massen etwas, worin sich jede radikale Formation gleicht? Oder sind die Dschihadisten buchstäblich von modernen Revolutionstheorien beeinflusst?

Schwierige Frage, die ich mir selbst oft gestellt habe. Letzteres ist bei jenen Dschihadisten der Fall, die vom ägyptischen Islamisten Sayyed Qutb beeinflusst sind. Er hat viel westliche Polit-Strategie in die arabische Welt transformiert und gewissermaßen grün übermalt. Al-Zawahiri steht sicher in seiner Tradition.

Auf der anderen Seite haben wir die salafistische Tradition, die Bin Laden offenbar viel stärker geprägt hat. Die ist eigentlich überhaupt nicht daran interessiert, was in der westlichen Geisteswelt so vor sich geht.

INTERVIEW: ROBERT MISIK