An der Zeitenschwelle

Monumental wirkend, starkfarbig, aber immer genau konturiert: Das Ernst Barlach Haus im Jenischpark zeigt mit 40 Bildern Ferdinand Hodlers einen höchst individuellen frühen Modernen

Die Körpersprache der Personen wurde aus dem Ausdruckstanz hergeleitetVon heroischem Mitgefühl sind die Bilder von sterbenden Lebensgefährtinnen

Von Hajo Schiff

Neunzig Prozent aller seiner Bilder befinden sich in der Schweiz. Aber als Regionalkünstler galt Ferdinand Hodler zu Lebzeiten keineswegs. Zwar entwirft er 1907 die Motive für die 50- und 100-Franken-Scheine und setzt Schweizer Nationalhelden wie Wilhelm Tell ins Bild. Doch vor dem ersten Weltkrieg war Hodler in Deutschland wohlbekannt und erhielt Großaufträge für Bilder nationaler Erhebungen.

Für die Universität Jena malte er den Auszug der Jenenser Studenten in den Freiheitskrieg gegen Napoleon 1813. Für das Neue Rathaus von Hannover erstellte er ab 1911 das 15 mal 5 Meter große Wandgemälde Einmütigkeit über den Reformationsschwur von 1533. Kunsthallendirektor Alfred Lichtwark bemühte sich damals, den Künstler nach Hamburg zu holen und in hiesigen Privatsammlungen war er einst mit 18 Gemälden vertreten.

Doch nach seinem Protest gegen die Beschießung der Kathedrale von Reims durch kaiserliche Truppen wurde er 1914 aus allen deutschen Künstlerverbänden ausgeschlossen und später von der neueren Kunst verdrängt. Anlässlich des selbst in der Schweiz jetzt kaum gefeierten 150. Geburtstages richtet das Ernst Barlach Haus im Jenischpark nach fast 50 Jahren zum ersten Mal wieder eine Werkschau des 1853 in Bern geborenen, 1918 in Genf gestorbenen Malers in Hamburg aus.

Hodler ist ein Maler an einer Zeitenschwelle. Sind seine frühen Bilder noch fein gemalte, an Camille Corot erinnernde Bilder von Mensch und Landschaft, so gelangt er im Umkreis der vielgestaltigen Lebensreformansätze des neuen Jahrhunderts zu idealisierten Empfindungsfiguren in einer stilisierten, rosenübersäten Landschaft.

Die egal in welchem Bildformat stets monumental wirkenden, stark farbigen, aber immer genau konturierten Personen sind in einer Körpersprache dargestellt, die dem zeitgleichen Ausdruckstanz entnommen wurde: Hodler war mit dem Genfer Musiker und Begründer der „Rhythmischen Gymnastik“ Emile Jaques-Dalcroze befreundet. In Bildern wie Die Empfindung oder Weib am Bergbach sahen angesichts der seltsamen Unvermitteltheit halbnackt in der Landschaft posierender Frauen frühere Kritiker allerdings auch „eine wahre Wüste des Lechzens ins Leere“.

Von heroischem Mitgefühl dagegen sind die Bilder, die Hodler, dessen Eltern und alle fünf Geschwister früh an Tuberkulose starben, mehrfach von sterbenden Lebensgefährtinnen angefertigt hat: Augustine Dupin hat er auf dem Totenbett gemalt und 1914/15 malt er über hundert Bilder von der an Krebs hinsiechenden Geliebten Valentine Godé-Darel. Zwei Bilder davon sind in der Ausstellung: Sterbend am 24. Januar und verstorben am 26. Januar. Am eigentlichen Todestag dazwischen malt Hodler in erstaunlicher Gleichsetzung von liegendem Leichnam und Landschaftsform den Blick aus dem Fenster auf den Genfer See mit dem Montblanc-Massiv in der Ferne. In dieser Ausstellung ist stattdessen allerdings zwischen die beiden Todesbilder ein ähnliches, drei Jahre jüngeres gehängt: Diesmal ist die karg in rotbraun und weiß skizzierte Landschaft desselben Motivs eines der allerletzten Bilder vor seinem eigenen Tod.

Obwohl er selbst in den Figurenbildnissen sein Hauptwerk sah, wurden Hodlers Landschaften einst von der Kritik besonders geschätzt, gar in den Vergleich mit Paul Cézanne gesetzt. Eine vage Vorstellung davon gibt im Barlach-Haus eine Wand mit vier Landschaften, die die Entwicklung von einer nach dessen Vorbild ganz die Farbvolumen von Bäumen und Architektur ausformenden Malerei zu einem atmosphärisch schwebenden Panorama einer Bergkette über einem See exemplarisch zeigt.

Besonders eindrucksvoll aber ist das Bild Kahle Bäume im Tessin von 1893. Es hat mit seinem nervös türkisem Himmel, den himmelblauen Bergen am Horizont, der orangenen Ebene und den bizarren, schatten werfenden Bäumen eine expressionistische Anmutung mindestens zehn Jahre vor der Verbreitung dieses Stils. Und so wird Hodler dann zu Recht von den Expressionisten in einer Reihe mit Paul Gaugin und Edvard Munch als Vorläufer reklamiert.

Mit Hodler ist ein Maler wieder zu entdecken, dessen ausgesprochen individuelle Bildproduktion sehr moderne Züge trägt. Die etwa vierzig Arbeiten umfassende kleine Ausstellung ist nicht nur eine ausgesprochen seltene und anregende Gelegenheit, sich mit dem Werk des Schweizer Sonderlings zu befassen, sie kann in der Auffassung des menschlichen Körpers auch Brücken zur in der in übrigen Räumen ausgestellten Plastik Ernst Barlachs schlagen.

Ferdinand Hodler zum 150. Geburtstag – Gemälde aus Schweizer Sammlungen, Ernst Barlach Haus, bis 4. Januar 2004; Di – So 11 – 18 Uhr