berliner szenen Bauarbeiten in Wedding

Das Ich wird dünner

Samstagmorgen, 7 Uhr. Zeit, aufzustehen. Auf dem Gerüst vor meinem betonverschmierten Fenster im vierten Stock stehen sie schon, die freundlichen Schwarzarbeiter. Wie jeden Morgen seit anderthalb Jahren. Längst kümmert es mich nicht mehr, dass sie mir bei allem zusehen. Fröhlich fluchend holen sie mit ihren Hämmern aus und lösen die Krebs erregenden Asbestverkleidungen von der Außenwand. Scheppernd zerschellt das spröde Material in der Tiefe.

„Wir sind im Oktober fertig, ich habe gute Leute!“, beteuerte der neue Hauseigentümer bereits im Mai 2002. Im Oktober 2003 ist ein Ende der Strapazen nicht abzusehen. Die neue Heizung funktioniert nicht. Wasser tropft von den Decken der Wohnung. Bohrer jaulen nervzerrüttend ins Gestein. Nur locker bleiben und nicht aufregen? Miete mindern? Nun ja, die Überlebenschancen steigert das nicht unbedingt. So stand das Klo unserer Wohnung unbemerkt monatelang unter Starkstrom. Bis meine Schwester eines Nachts Wasserhahn und Türklinke gleichzeitig anfasste. Am nächsten Morgen standen die Handwerker ratlos in der Wohnung und diskutierten das Missgeschick. „Ick sage dir eens, wär die Kleene jetzt tot, wärst du im Knast, Alta!“, meint der eine mit entsetztem Blick auf den Spannungsmesser. Die achselzuckende Antwort: „Ick kann nüscht dazu, Alta, morgens funktioniert meen Kopp nüscht!“

Wieder 7 Uhr: bumbumbum! Ein neuer Tag. Wie heißt es so schön in Karl Mays Spätwerk „Ardistan und Dschinnistan“: „Die Fetzen fliegen heiß nach allen Seiten. Dein Ich wird dünner, und dennoch musst du wieder in das Feuer, bis der Schmied den Geist erkennt, der aus der Höllenqual ihm ruhig, dankbar, froh entgegenlächelt.“ JAN SÜSELBECK