Theater unter Deck

von der Fedderwarder Reede Armin Simon
(Text) und Hannes von der Fecht (Fotos)

Den ersten Toten gibt es schon. Er liegt im dunkelgrünen Helikopter, in einer knallorangenen Plastikbahre nach oben gezogen vom schwankenden Schiff, das rechte Auge fehlt, das linke ist weit aufgerissen, der Fuß gequetscht und blutig. Einen Schlauch haben sie ihm in den Hals geschoben, ein gelber Blasebalg hängt daran. Verzeihung: hing daran. Denn der Bundesgrenzschützer oben in der Seitenluke hat die Winde betätigt, der Wind lässt die Bahre baumeln, kippen. Plopp hat es gemacht beim Abheben vom Deck, das war der Schlauch, der rausgerutscht ist, der zweite Plopp ist leiser, das ist nur der Plastikbalg, der auf die Planken fällt. Die Wolldecke kann nicht mehr fallen, die haben sie ihm vorsorglich schon abgenommen vor seiner Himmelfahrt, ist ja nicht weit, nur 20 Meter von unten nach oben, von der brennenden „MS Helgoland“ zum „SA 330 Puma“, hier draußen auf der Fedderwarder Reede in der Außenweser. Ein-, zweimal stößt das Plastikbett gegen den Tritt unterhalb der Luke, der Grenzschützer kuckt ein wenig, zerrt am Seil, Mann, was haben sie mir da wieder geschickt, denkt er vielleicht und wuchtet das Ding dann rüber, rein in die Kabine. Zu die Tür und ab ins Krankenhaus.

„Beatmungspflichtig“ sei der Patient gewesen, betont Feuerwehr-Mann Michael Kuk unten an Deck. Und so schwer verletzt, dass er nicht warten konnte, bis ein Schiff das nächste Hospital ansteuert. Vier Rettungs-Assistenten und zwei Notärzte hat der Helikopter abgeseilt, eines von fünf Verletztenversorgungsteams, die das Havariekommando für den Einsatz auf hoher See ausgebildet und entlang der deutschen Küste stationiert hat, von Bremen bis Stralsund, „weltweit einzigartig“, hat der Chef der Katastrophen-Zentrale gesagt. Alle sechs Helfer sind ins Unterdeck verschwunden, der Helikopter nicht mehr zu sehen. „Wer fliegt denn jetzt mit dem Patienten mit?“ Kuks Berufs-Sarkasmus macht sich breit: „Der liebe Gott.“

Offiziell ist der mutmaßlich Tote „ein Kommunikationsproblem“. Denn dass ein Schwerverletzter einen Sanitäter als Begleiter braucht, sagt Kuk, „das hat der BGS da oben nicht so verstanden.“ Brüllen hilft nichts, wenn der Rotorlärm schon an den Zähnen zieht. Funkverbindung zum Helikopter hat nur die Einsatzleitung, und die sitzt nebenan, auf der Brücke der ‚Mellum‘, die dem Havaristen beigedreht hat. Die OSC, die On Sea Coordination, versucht zu retten, was zu retten ist. Ein Matrose scheucht die Leute vom Deck, Kuk bringt ein paar liegengelassene Survival-Suits vor dem Gebläse in Sicherheit: Luke auf, Seil runter, Sanitäter hoch. Kuk schaut auf die Uhr und denkt an den Patienten. „Acht Minuten war der jetzt ohne Beatmung“, sagt er.

Es ist ja nur eine Übung: Die Fähre „Helgoland“ kollidiert mit einem Küstenmotorschiff, in der Mannschaftskombüse bricht Feuer aus. Dicker Qualm zieht durch das Unterdeck, 80 Passagiere sind zum Teil schwer verletzt, das Schiff manövrierunfähig. Und das eine Stunde vor Bremerhaven.

Heute ist nicht das Wetter für Unfälle. Kein Wölkchen zieht über den Himmel, die See ist ruhig: Ostwind – der wird nicht gefährlich. Kapitän Rainer Giese fährt seit Jahrzehnten zur See. „Mann über Bord“ war das Schlimmste, was ihm bisher passiert ist. Nun mimt er den Ernstfall. „Mayday, mayday, mayday“ ruft er ins Funkgerät: „Hier ist die ‚Helgoland‘“. Über dem Feuermelder leuchtet ein rotes Licht. „Wenn sowas passiert, ist uns schnell geholfen“, sagt Giese noch.

„Die Übung beginnt ab sofort“, meldet sich der Bordlautsprecher. Geschrei und Geheule ist die Antwort. 80 Rekruten der Marineoperationsschule Bremerhaven sind gerade einmal eine Woche im Dienst – und schon ist die Hälfte verletzt. Platzwunden, Knochenbrüche, Brustkorb-Trauma haben die Präparatoren ihnen zugefügt. Ihr Einsatzbefehl heute: Schauliegen in der Schiffsdisko, zwischen sorgsam umgekippten Stühlen. „Bald sieht man hier nichts mehr“, sagt ein Übungsleiter. Seine Hand greift unter die Spüle, ein Klick, die Nebelmaschine pfeift. Es brennt.

Eine Stunde Anrückzeit hat sich das Havariekommando zum Ziel gesetzt. Im Ernstfall, da macht sich niemand Illusionen, ist das eher utopisch. Diesmal ist das Verletztenversorgungs-Team aus Bremen das schnellste, mit dem Helikopter, abgeseilt. Qualm quillt die Treppe herauf, Rufe, Stöhnen. Die Sanitäter wissen nicht, wo die Verletzten liegen, noch, wie viele es sind. Sie kennen das Schiff nicht und Atemschutz haben sie auch keinen. Einer geht die Lage checken. Die anderen warten. Auf eine Idee, einen Plan, eine Order. Und auf die Feuerwehr.

Matrose Dominik liegt am Fuß der Treppe, neben sich eine schwerverletzte Puppe. Er ist Opfer Nummer drei, erkennbar am Schild um den Hals, in Tarntracht und Stiefeln. „Bewusstlos, stockende Atmung, Prellung an der Schläfe“ steht auf der Rückseite des Schilds, auch der Puls ist vermerkt: „90“. Längst haben seine Kameraden aufgehört zu rufen, der Kunstnebel hat sich verzogen. „Die Verbrennung ist abgekühlt“, flachst einer. Ende des Ernstfalls? „Bei anderen Übungen haben wir Schauspieler“, sagt ein Arzt: „Hier haben wir Soldaten.“

Ein Notarzt stapft über die Stühle, beugt sich zu den Statisten hinunter. Die eine Hand sucht das Schild um den Hals, die andere hält die Taschenlampe. Nummer 57, „Handgelenksfraktur“. Das gibt ein gelbes Kärtchen um den Arm. „Halb so wild, wir kommen wieder“, sagt der Arzt, nächster Patient. Erste Aufgabe ist „Sichten“, nicht Behandeln. Leichtverletzte, die sich selbst versorgen können, bekommen grüne Kärtchen. Orangene kennzeichnen Patienten in akut bedrohlicher Lage. Und blaue für die von den Ärzten aufgebenen. Zwei Helfer stundenlang zur Reanimation abzustellen, das ist im Katastrophenfall nicht drin – zumal auf See, wenn die Kapazitäten begrenzt sind. Im Übungsszenario kommen keine „blauen“ Fälle vor. In echt wohl schon. „Wenn hier wirklich mal was los ist, dann hast du verloren“, urteilt Matrose Dominik. Die Stühle liegen immer noch kreuz und quer. Hat ja schließlich keiner gesagt, dass man die wegräumen soll.

Viel zu langsam seien die Verletzten aus dem Gefahrenbereich geschafft worden, wird ein leitender Notarzt am Ende resümieren. Zumal der Schwerpunkt der Übung auf der Verletztenversorgung liegen sollte. Für Erfassung, Behandlung und Abtransport der Katastrophenopfer müsse es jeweils einen verantwortlichen Arzt geben, der allein organisatorische Aufgaben übernehme – Koordination statt Chaos.

Unten springt der Nebelwerfer wieder an, binnen Minuten ist die Disko dicht. „Der Brandherd ist noch nicht aus, die Feuerwehr wird noch gebraucht, das musst du nochmal mit einspielen“, funkt ein Organisator nach oben. Zum zweiten Mal rücken die Brandbekämpfer vor, Spritzen in der Hand, den schlaffen Schlauch im Schlepptau. Atemgeräte pfeifen. Lampenstrahle schneiden durch den Qualm, suchend. Da! Ein Griff zur Steckdose und der Nebelwerfer schweigt. Der Übungs-Beobachter in der Ecke reagiert gereizt. „Lässt du das bitte drin“, raunzt er den Floriansjünger an. Übung hin, Übung her – so einfach wird hier kein Brand gelöscht: „Wann das Feuer aus ist, entscheiden wir.“

Branddirektor Sören Heidenreich, der Erfinder der gestellten Katastrophe, zeigt sich am Ende zufrieden. Der Brand sei „professionell“ bekämpft worden, die „Überforderung“ des ersten Sani-Teams „normal“. Und gerade auf See gebe es „Einsatzgrenzen, die sind konzeptionell nicht zu überwinden“.