„Wir kriegten doch keine Hilfe“

Auf der Anklagebank im Landgericht sitzt seit gestern ein schizophrener 29-Jähriger. Er hat die Mutter umgebracht. Doch für seine Schwester ist am Tod der Mutter vor allem der Sozialpsychiatrische Dienst Schuld. „Man hat uns völlig alleine gelassen“

„Ich habe nicht nur die Mutter verloren, sondern auch den Bruder“

bremen taz ■ Im Saal des Bremer Landgerichts kämpften gestern viele Beobachter mit Tränen, als die Schwester des psychisch schwer kranken Angeklagten schilderte, welche Hilflosigkeit ihre Familie im Umgang mit dem psychotischen Zwillingsbruder zwei Jahre lang durchlebte – bis der Angeklagte am 13. September 2003 nach früheren Drohungen schließlich die Mutter umbrachte und am selben Tag auch den frisch operierten Vater in Panik versetzte.

„Man hätte verhindern können, dass es meinem Bruder so schlecht geht“, schloss die Schwester im Zeuginnenstand; in dem Totschlagsverfahren ist sie zugleich Nebenklägerin. Immer wieder habe sie beim sozialpsychiatrischen Dienst um Hilfe gebeten. „Vergeblich.“ Weil der Bruder ihr vertraute, fühlte sie sich verantwortlich, ihm zu helfen. Auch habe sie die Mutter gewarnt, mit dem Bruder alleine zu bleiben – und blieb ungehört. Aus „Mutterliebe“ sei die 61-Jährige wohl doch in die Wohnung des Sohnes gegangen, wo die Tat dann geschah. „Sie kannte die Gefahr. Aber sie wusste da nicht raus“, berichtete die Tochter unter Tränen davon, wie sie und ihre Mutter am Tag der Tat alle Messer in der elterlichen Wohnung versteckt hatten, bevor sie dem Kranken zum Mittagessen die Tür öffneten. „Ich habe nicht nur meine Mutter verloren, sondern auch meinen Bruder.“

Nach insgesamt sechs Verhandlungstagen will das Schwurgericht in der übernächsten Woche über die Zukunft des Angeklagten entscheiden, der nach kurzer Flucht einen Tag nach der Tat festgenommen wurde. Seither ist der 29-Jährige in der geschlossenen Gerichtspsychiatrie untergebracht, wo er als außerordentlich schwer behandelbarer Fall mit schizoider Psychose gilt. Zugleich muss das Gericht klären, inwieweit der Mann, der zuletzt von Gelegenheitsjobs und Arbeitslosenunterstützung in einer Wohnung seiner Eltern lebte, auch verantwortlich gehandelt haben kann: Als er beispielsweise schon vor der Tat ein Fähren-Ticket buchte, das ihn danach zur Tante nach England gebracht hätte – wenn er nur den Anlieger in Cuxhaven gefunden hätte. Oder als er die Nummernschilder am Wagen seiner Mutter auswechselte – auf der Flucht vor Polizei, Hölle oder Psychiatrie.

Dieses Bild jedenfalls entwarf der Angeklagte gestern in verworrenen Aussagen – deren Bedeutung er zu ahnen scheint. Immer wenn der kleine blasse Mann fürchtet, sich mit seinen Aussagen zu belasten, fragt er seinen Verteidiger vorher um Rat. Dann nuschelt der Angeklagte, offenkundig unter der Wirkung schwerster Psychopharmaka, wie er die Tat erlebte und welche Gründe er dafür zu haben glaubte. Immer sind dabei die Eltern schuld, vor allem der Vater, weil der ihn geschlagen habe. Eine Sicht, für die der Vater gestern keine Erklärung fand. So wenig wie die Schwester, die allerdings beobachtet hatte, dass der Bruder die vermeintlichen Übergriffe zuvor auch anderen, möglicherweise erfundenen Figuren angelastet hatte.

Ungläubigkeit und Erschütterung zeichnete sich gestern auch auf den Gesichtern erfahrener Prozessbeobachter ab, als der Kranke teilnahmslos berichtete, wie er in seinem Badezimmer auf die Mutter einschlug, die ihm doch nur die Schmutzwäsche hatte waschen wollen. Wie er sie gegen den Kopf trat. Wie die Frau kein Zeichen von Schmerz zu erkennen gegeben haben soll – und er schließlich sein Messer holte, nachdem der Mutter eine Flucht missglückte und auf ihre Hilferufe niemand reagierte. „Dann legte sie sich zum Sterben hin.“ Ja, hinterher habe er einem Bekannten auf den Anrufbeantworter gesprochen „dass ich meine Mutter umgebracht habe. Das war geil.“ Auch gegenüber seiner Schwester äußerte er sich bei einer ersten Begegnung seit der Tat ähnlich. Und Experten hat er auch anvertraut, dass er den Vater, den er dann ins Auto holte, ebenfalls hätte umbringen wollen. ede