Die Litauerin Mascha Rolnikaite, die das Wilnaer Ghetto durchlitt, liest im Literaturzentrum aus ihren Erinnerungen
: Erzählen, um zu überleben

„Ich stehe am Fenster und weine: Der Gedanke, dass ich morgen sterben muss, ist furchtbar. Bis vor kurzem bin ich doch noch in die Schule gegangen, ... und plötzlich heißt es – stirb! ... Ich habe doch noch gar nicht richtig gelebt!“

Mascha Rolnikaite ist 14 Jahre alt, als sie diese Zeilen im Juni 1941 in ihr Tagebuch schreibt. Sie ist Litauerin, sie ist Jüdin. Vor wenigen Tagen haben die Deutschen Wilna besetzt. Über Nacht ist das alte Leben verschwunden, Verbote und Todesangst sind an seine Stelle getreten. Die Drohung, am kommenden Tag alle Juden zu erschießen, sollten sie bis zum Morgen nicht fünf Millionen Rubel zusammenbringen, steht am Beginn einer fast vierjährigen Schreckenszeit.

Mascha Rolnikaite hat diese Zeit festgehalten, alles aufgeschrieben, was sie sah, am eigenen Leibe erfuhr, was andere ihr erzählten. Sie wurde zur Chronistin des Anfang September 1941 errichteten Wilnaer Ghettos: „Da–rum muss alles, was hier geschieht, im Tagebuch festgehalten werden. Wenn ich am Leben bleibe, werde ich selber erzählen, wenn nicht – werden andere es lesen. Aber erfahren sollen sie es! Unbedingt!“

Sie hat überlebt. Sie kann selbst erzählen. Dank der Einladung durch die Hamburger Salomo-Birnbaum-Gesellschaft und das Literaturzentrum ergibt sich jetzt die wertvolle Gelegenheit, ihr zuzuhören. Sie wird aus dem Tagebuch lesen, das sie großteils nach ihrer Befreiung durch Rotarmisten im März 1945 aus dem Gedächtnis rekonstruiert hat. Denn nur ein Bruchteil des Originals blieb erhalten. Weil es aber lebensgefährlich war, dies bei sich zu haben, lernte sie auf Rat ihrer Mutter alles auswendig.

Auch an eine Veröffentlichung in der antisemitischen Atmo–sphäre der spätstalinistischen Ära war kaum zu denken. Erst 1963 erschien eine zensierte Fassung in Litauen, nachdem dem Text die „richtige marxistische Klassenposition“ eingeschrieben wurde.

Seit 2002 liegt nun der ursprüngliche Text in einer aus dem Jiddischen übertragenen deutschen Fassung vor. Er beginnt mit den letzten friedlichen Stunden vor Beginn der Verfolgung. Dann schließen sich für Juden Lokale und Schulen, zwingt man sie zum Tragen verschiedener Kennzeichnungen. Kurz darauf müssen sie ins Ghetto „umziehen“. Hier schon bedeutet das Leben des einen den Tod eines anderen. Wer einen Arbeitsschein erlangt, darf vorläufig leben: in drangvoller Enge, ständig bedroht von so genannten Aktionen, bei denen viele verhaftet und in Ponar bei Wilna erschossen werden.

Die Menschen leiden Hunger. Dennoch richten sie eine Bibliothek ein, gründen Schulen, ein Theater, zwei Chöre und ein Symphonieorchester – die Fortführung ihres kulturellen Lebens als Ausdruck geistiger Selbstbehauptung. Am 23. September 1943 wird das Ghetto aufgelöst. An diesem Tag sieht Mascha ihre Mutter und ihre kleinen Geschwister Rajele und Ruwele zum letzten Mal: „,Mama!‘ schreie ich, so laut ich kann. ,Komm Du zu mir!‘ Sie schüttelt nur den Kopf und ruft mit einer seltsam heiseren Stimme: ,Lebe, mein Kind! Wenigstens Du sollst leben! Nimm Rache für die Kleinen!‘...Ruwele sieht mich so merkwürdig an.“

Die KZs Strasdendorf und Stutthof sind Höllen auf Erden. Die inzwischen 16-Jährige und ihre Mitgefangenen sind den Schikanen der SS-Männer und SS-Frauen, den täglichen Selektionen ausgesetzt. In Stutthof steigt der Rauch Tag und Nacht aus dem Krematorium.

Es ist gut, dass das Wissen um den Holocaust nicht gegen diese Lektüre wappnet. Gegen Maschas Schrecken, der rasch nicht mehr kindlich ist. Gegen ihre eindringlichen Beobachtungen, gepaart mit ihrer nicht versiegenden Empathie. Und obgleich der Leser auf Seiten des Ahnens verbleibt, verfolgt man gemeinsam mit der Autorin, die oft nicht glauben kann, was sie mit eigenen Augen sieht, die erbarmungslos voranschreitende Verrückung aller Maßstäbe. Manchmal fehlt ihr die Kraft zu irgendeinem Kommentar. Dann stehen die Sätze furchtbar schlicht da: Subjekt, Prädikat, Objekt. Was sie aussagen, ist nicht fassbar. Dennoch sind sie kaum zu ertragen. Muss man oft innehalten. Manchmal weinen. Mascha Rolnikaites ältere Schwester und ihr Vater haben überlebt. Außer der Mutter und den jüngeren Geschwistern verlor sie 45 Angehörige. Der 76-jährigen Schriftstellerin, die heute in St. Petersburg lebt, ist das Schreiben auch nach 1945 immer Überlebenshilfe gewesen. Und bis heute folgt sie dem Versprechen, das sie als Vierzehnjährige ablegte: stetig gegen das Vergessen anzuerzählen. CAROLA EBELING

Mascha Rolnikaite: Ich muss erzählen. Mein Tagebuch 1941-1945. Berlin 2002, 286 S., 19,90 Euro. Lesung: Mi, 5.11., 20 Uhr, Literaturzentrum, Schwanenwik 38