in fußballland
: Jungsding mit Fernbedienung

CHRISTOPH BIERMANN schreibt über einen langen Abend mit ganz vielen Fußballspielen und stellt sich die Frage nach dem Erkenntnisgewinn

Als Günther ging, sagte er, dass er sich nun etwas dösig fühlen würde. Kein Wunder, er hatte siebeneinhalb Stunden im Sessel gesessen und Fernsehen geguckt. Steffen war später gekommen und früher gegangen, hatte es aber immerhin auch noch auf knapp fünf Stunden gebracht. Peter war erst Mitte der zweiten Halbzeit des deutschen Länderspiels erschienen und hatte sich schon vor dem Argentinienspiel verabschiedet, das machte allenfalls zweieinhalb Stunden. Regina war am kürzesten da gewesen, hatte sich und Günther nach dem Kino was zu essen beim Vietnamesen geholt (wir anderen hatten keinen Hunger). Danach war sie – zu unserem Bedauern – relativ schnell nach Hause gefahren, aber irgendwie war ein Acht-Stunden-Fußball-Tag vor dem Fernseher dann eben doch ein Jungsding.

Obwohl: Beweisen wollten wir nichts. Wir saßen halt da, schauten Fußball, nur halt so lange wie noch nie. Ich hielt die Fernbedienungen in der Hand und hatte den Gang durch die verschiedenen televisionären Ebenen zu lenken. Es galt schließlich, nicht nur das Angebot des freien Fernsehens mit dem des Bezahlfernsehens zu koordinieren, „Premiere“ selbst offerierte diverse Unterebenen. So musste man sich etwa entscheiden, ob man Iran gegen Deutschland im Zweiten oder Schweden gegen Ungarn, Tschechien gegen Rumänien oder die WM-Konferenzschaltung auf „Premiere“ anschauen wollte. In diese Konferenz wiederum wurde mitunter Ottmar Hitzfeld völlig unvorbereitet als Experte im Studiogespräch eingeblendet. Er gab seine Expertisen ab, während man zugleich sah, wie sich die Rumänen in Prag abmühten.

Streitereien darum, was wir und wie lange wir es anschauen wollten, gab es keine. Vielleicht hielt sich Steffen aber auch nur zurück, obwohl er gerne mehr vom Spiel der Argentinier gegen Uruguay gesehen hätte. Er war nämlich schon einige Male am La Plata gewesen und wusste uns gleich Spieler zu identifizieren, deren Namen wir noch nie gehört hatten. Aber irgendwie sahen wir vom Spiel in Buenos Aires nicht viel, während wir die Begegnung der Deutschen bis zu den vielen Auswechselungen fast komplett anschauten. Später ließen wir uns ins Drama der Schlussphase von Zagreb fallen, als Bulgarien – seltsamerweise vom DSF übertragen – kurz vor dem Abpfiff bei den Kroaten noch ausglich. Anschließend – oder war es zwischendurch? – stöhnten wir erstaunlich synchron auf, als die Iren in Paris die besten Chancen vergaben. Ansonsten hatten wir auch unterschiedliche Vorlieben, Günther etwa drückte den Norwegern die Daumen, ich hielt wie eigentlich immer zu den Schotten. Günther hat schließlich mit 1:0 gewonnen.

So trieben wir durch die Stunden, vom Nachmittag über den Frühabend bis in die Nacht. Die Spiele zogen an uns vorbei, mal hier angepfiffen und dort abgepfiffen wurde in Stockholm, Istanbul, Manchester, Santander oder Kiew, und ich fügte mich diesem Rhythmus gern, weil meine verschnupfte Nase sowieso zu einem eher vegetierenden Leben auf dem Sofa einlud.

Bevor die anderen gekommen waren, hatten Günther und ich gefunden, dass Konferenzschaltungen dann helfen, wenn Spiele so langweilig sind wie das von England gegen Wales oder Schottland gegen Norwegen. Später diskutierten wir die Frage nicht mehr. Wir redeten sowieso immer weniger. Zogen wir überhaupt noch neue Erkenntnisse aus dem, was wir sahen? Machte uns das noch Spaß? Wir sprachen nicht darüber, als wir von Spielschnipsel zu Spielschnipsel wechselten, und als wir uns von den Rufen der Reporter („Tor in Istanbul“) anlocken ließen. Doch als Steffen ging, verabredete er mit Günther für den nächsten Tag den Besuch eines Oberligaspiels. Ich mochte nicht mitkommen, konnte sie aber verstehen. Die Stunden vor dem Fernsehen hatten nicht Hunger auf mehr gemacht. Es hatte die Sehnsucht nach richtigem Fußball ohne Umschaltoption geweckt – und sei er auch nur viertklassig.

Später im Rausgehen sagte Günther noch, dass wir das nicht noch einmal zu machen brauchten. Dann war er auch schon weg, und ich schaltete um und schaute mir im Sportstudio des Zweiten noch an, wie Italien in Slowenien hatte verlieren und Polen in Österreich gewinnen können.