Die Welt, ein Bierdeckel

Friedrich Merz bleibt seinen Prinzipien so treu wie kaum ein anderer Politiker. Sein Verhalten offenbart einen erschreckenden Mangel an Opportunismus – das ist deutsche Tradition

VON RALPH BOLLMANN

Eigentlich müsste Friedrich Merz der erfolgreichste Politiker Deutschlands sein. Der Mann vereint in seiner Person so ziemlich alle Eigenschaften, die das Volk von seinen Vertretern gewöhnlich verlangt. Er vertritt seine Position zumeist ohne taktische Rücksichten, er lehnt Kompromisse in der Regel rundheraus ab, er ist gewiss alles andere als ein Opportunist.

Damit steht er in krassem Gegensatz zu den meisten anderen Politikern, die selbst demütigende Niederlagen in Personal- oder Sachfragen ohne öffentliches Wehklagen hinnehmen. Als Kanzler Gerhard Schröder etwa die Sparpläne seines Finanzministers Hans Eichel bei den Koalitionsverhandlungen 2002 abkanzelte („Lass mal gut sein, Hans“), hätte Eichel eigentlich zurücktreten müssen. Er machte weiter und verwaltet das größte Haushaltsloch in der Geschichte der Republik.

Zu einer solch tragischen Figur wollte sich Merz nicht machen lassen. Nach allen Kränkungen, die ihm die Partei- und Fraktionschefin zugefügt hatte, will Angela Merkel jetzt auch das Merz’sche Konzept der Einfachsteuer auf dem Altar der Kopfpauschale opfern. Denn anders als Merz, dessen wirtschaftsliberaler Furor wirklicher Überzeugung entstammt, hat Merkel zu ihrem Reformprogramm ein rein taktisches Verhältnis.

Auch wenn Merz von einem Comeback in einer möglichen Nach-Merkel-Ära träumen mag – zunächst hat er sich mit seiner Geradlinigkeit und seiner mangelnden Bereitschaft zu taktischen Bündnissen ins Abseits manövriert. Das Beispiel Merz zeigt die fatalen Folgen, die falsch verstandene Prinzipientreue im politischen Geschäft haben kann. Schließlich entstammen so ziemlich alle politischen Katastrophen der Weltgeschichte einem erschreckenden Mangel an Opportunismus. Ob nun die Professoren der Paulskirche so lange über Verfassungssysteme diskutierten, bis die Revolution vorbei war, ob prinzipientreue Parteien 1929 das parlamentarische System der Weimarer Republik ruinierten oder ob Adolf Hitler am Ende den Untergang des eigenen Landes betrieb – gerade in Deutschland war es oft genug die trotzige Verweigerung gegenüber taktischen Winkelzügen, die fatale Folgen zeitigte.

Es ist schon ein merkwürdiges Land, in dem der Begriff „kompromisslos“ als Lob aufgefasst wird. In der Person von Friedrich Merz verkörpert sich diese Kompromisslosigkeit gleich auf doppelte Weise. Schon das Steuermodell selbst, das die bunte Vielfalt der deutschen Gesellschaft auf das Format eines Bierdeckels pressen wollte, zeugte von einer bemerkenswerten Blindheit gegenüber der Wirklichkeit. Noch illusionärer erschien freilich Merzens Glaube, das Modell ließe sich tatsächlich eins zu eins in die Wirklichkeit umsetzen.

Das Merz’sche Konzept nimmt sich so abstrakt aus wie einst die Denkmodelle der großen deutschen Philosophen. Auch die Geistesgrößen mochten nicht akzeptieren, dass die Alltagswelt den Gesetzen ihrer abstrakten Logik partout nicht folgen wollte. Ihre kleinbürgerlichen Epigonen reagierten darauf mit kindlichem Trotz. Wenn Friedrich Merz lieber wahllos Porzellan zerschlägt, statt politische Kompromisse zu schließen – dann verhält er sich im kleineren und weitaus harmloseren Maßstab so ähnlich wie einst Kaiser Wilhelm II., der nicht recht verstehen wollte, wie sich die britische Regierung der vernünftigen Forderung nach einem deutschen „Platz an der Sonne“ verschließen konnte.

So erfrischend die völlige Rücksichtslosigkeit von Merz’ politischen Einlassungen im Politikbetrieb wirkt, so beruhigend ist deshalb seine anhaltende Erfolglosigkeit. Der alles niederwalzende Pragmatismus des deutschen Politikbetriebs, gegen den sich Merz auflehnte, ist durchaus eine zivilisatorische Errungenschaft. Die opportunistische Fähigkeit, sich der Gunst politischer Gelegenheiten anzupassen, gehört nicht etwa zu den beklagenswerten Defiziten eines Politikers. Sondern zu seinen unverzichtbaren Qualitäten.