Pop im Altertum

Leonard Cohen, Loretta Lynn oder Nancy Sinatra feiern sensationelle Erfolge. Noch nie in der Geschichte der Popmusik waren die Alten so präsent und so wichtig wie heute. Die Pioniere der Jugendkultur sind ihre stolzen Greise

VON ARNO FRANK

„Rock ’n’ Roll ist so jung, dass es noch nie wirklich alte Künstler gegeben hat. Das Alter ist ein unerforschter Kontinent, und wir sind alle Pioniere.“

Keith Richards

Das Abenteuer könnte vor 3.000 Jahren begonnen haben. Wir sitzen alle am Lagerfeuer. Wir erzählen uns Geschichten und singen Lieder, um die Langeweile zu vertreiben. Und wir plappern und singen einfach ein wenig lauter, wenn die Angst vor der uns umgebenden Dunkelheit übermächtig wird. Da erhebt plötzlich der blinde Alte, der stumme Greis, der sich seit Jahren nicht mehr an unserem Geschwafel beteiligt hat, seine Stimme – und spricht wahr.

„Leise, leise! Um Gottes willen! Haltet ein! Hört ihm zu!“, zischeln die Feuilletons heute, da wir alle vereinzelt in unseren Stuben hocken. Zuletzt sollten wir Loretta Lynn lauschen. Oder Udo Jürgens. Angefangen aber hat es wohl mit Johnny Cash. Denn er hat das Gesetz gebrochen und die Grenze überquert. Keines dieser papiernen Gesetze, nach denen bestraft wird, wer mit einem Gitarrenkoffer voll Amphetaminen die US-amerikanisch-mexikanischen Grenze überqueren will. Cash hat eine andere, eigentlichere Grenze überquert, indem er künstlerische Relevanz an den Tag legte. Ihm folgten andere Nachahmungs- und Wiederholungstäter, alle vom Alter her jenseits von gut und böse. Und alle brechen sie derzeit das Gesetz.

Ein Gesetz, das nicht aufgeschrieben oder ausgesprochen werden konnte. Es konnte nicht einmal gesungen werden. Noch heute klingt es so, als hätte sich dieses Gesetz selbst formuliert, so ungestüm, dass Pete Townshend noch ins Stottern kam, „t-t-t-talking ’bout my generation“, als es endlich aus ihm herausbrach: „Hope I die before I get old.“

40 Jahre sind seit „My Generation“ von The Who ins Land gegangen. In diesen vier Jahrzehnten hat Pete Townshend seine Nasenscheidewand und sein Gehör verloren, aber nicht sein Leben – demnächst wird er 60 Jahre alt. Den Veteranen mit seinen viele Erinnerungen unter der hohen Stirnglatze und noch mehr Geld auf der hohen Kante kann kaum etwas aus der Ruhe bringen – es sei denn, Journalisten sprechen ihn auf diesen Satz an, der seinem Urheber mit jedem ergrauten Haar immer mehr zur Hypothek geworden ist: „I hope I die before I get old.“

Lang und legendär ist die Liste seiner Kollegen, die diesen Satz als Handlungsanweisung verstanden haben: Leute wie Brian Jones, Janis Joplin, Jimi Hendrix, Jim Morrison oder Keith Moon lebten schnell, starben jung – und wurden so zu Märtyrern der obskuren Lehre von der reinen Redlichkeit des frühen Todes. Kurz und kümmerlich liest sich daher die Liste jener Verfluchten, die nicht in anonymer Abgeschiedenheit verblassen können. Ozzy Osbourne? Trampelt als früh vergreiste Karikatur seiner selbst nicht nur durch die Seifenoper seines Lebens, sondern auch auf den Gefühlen der Fans herum, denen Black Sabbath tatsächlich mal etwas bedeutete. Kurt Cobain könnte, wenn er denn noch könnte, uns davon heute ein Lied singen.

Ein perfektes Beispiel für die Gnade des zeitigen Exitus sind die Rolling Stones, die ihr natürliches künstlerisches Verfallsdatum weit überschritten haben. Unbarmherzig hat das Alter die ehemaligen „Glimmer Twins“ Mick Jagger und Keith Richards in ledrige Faltenrocker verwandelt, sie sind an das Ideal der ewigen Jugend gekettet wie Prometheus an den Kaukasus. Wir ahnen, was die Simulation ewiger Potenz und Vitalität diesen alten Körpern abverlangen muss – und zollen ihnen Respekt für ihre sportliche Leistung. Und die Musik? Ein komatöser Patient, künstlich beatmet von der schönen Lüge technisch reproduzierter Jugend. Wie übrigens auch Blondie, der mit über 60 Jahren ein Comeback nach klassischem Muster gelungen ist – um den Preis des vergifteten Kompliments, sie habe sich ja „erstaunlich gut gehalten“.

Am Ende entgeht niemand der Demontage, dessen öffentliches Bild von körperlicher Attraktivität dominiert war. Panische Ausweichmanöver vor dem unvermeidlichen Welken lassen sich bei ehemaligen Sexsymbolen wie Michael Jackson oder Madonna beobachten – und die sind nicht einmal wirklich alt.

Nur wenige besitzten die Integrität, ihren physischen Verfall auch künstlerisch zu thematisieren – wie etwa der verfettende Schauspieler Marlon Brando im „Letzten Tango in Paris“, wo die erotische Präsenz früherer Tage fast melancholisch weiterschwingen konnte. Den gleichen Effekt hat sich auch die Popmusik dienstbar gemacht, in den flüchtigen Flirts und einmaligen Gastauftritten von Marianne Faithfull bei Metallica, von Shirley Bassey bei den Propellerheads, von Liza Minnelli und Dusty Springfield bei den Pet Shop Boys.

Dennoch galt: „It’s better to burn out than to fade away“, wie Neil Young mal gesungen hat. Auch so ein alter Sack, auch so ein paradigmatischer Satz – an dem sich der Paradigmenwechsel sehr schön ablesen lässt. Ein Wechsel wohlgemerkt, den selbst Dauerbrenner wie David Bowie oder Tom Waits noch nicht vollzogen haben. Die wirkliche Wende vollzieht sich derzeit unter solchen Künstlern, die wir längst erloschen wähnten, deren Kreativität aber plötzlich wieder aufflackert und heller strahlt als jemals zuvor.

Angekündigt hat sich dieser geriatrische Gezeitenwechsel mit den lebenslustigen Tattergreisen vom Buena Vista Social Club. Vollendet war er vielleicht, als Tom Jones sein Rentnerreservat in Las Vegas verließ, um unter der tanzenden Jugend seine „Sexbomb“ zu zünden. Was ist da passiert?

Vielleicht hat die Popkultur selbst beim Blick in den Spiegel erste Krähenfüße entdeckt, die Folgen ihres programmatischen Lebenswandels aus Exzess, Lebenshunger und Verschwendung. Und vielleicht hat sie erkannt: „Wenn ich weiter das Alter verachte, verachte ich mich bald selbst.“ Da helfen keine Kosmetika, da braucht es neue Bündnisse.

Vielleicht könnte man es den „Pulp Fiction“-Effekt nennen. Denn Quentin Tarantino hat das Wachküssen vergessener Dornröschen (wie Pam Grier in „Jackie Brown“ oder John Carradine in „Kill Bill“) zu methodologischer Reife gebracht. So wird kurioserweise der jugendliche Macher zum Mentor des Älteren, indem er seine ungenutzten Ressourcen für einen neuen Kontext mobilisiert – und ihm damit zu später Geltung verhilft.

John Lee Hooker hatte Van Morrison. Rubén González oder Ibrahim Ferrer hatten den US-Gitarristen Ry Cooder. Johnny Cash hatte den Metal-Produzenten Rick Rubin. Loretta Lynn hat Jack White von den White Stripes. Tom Jones hat seinen Sohn. Nancy Sinatra hat John Spencer von der John Spencer Blues Explosion.

Exemplarisch für dieses völlig neue Zusammenspiel der Generationen ist die aktuelle Platte von William Shatner. Der 73-jährige Captain Kirk aus „Raumschiff Enterprise“ verhökerte die Restbestände seiner Prominenz schon im US-Werbefernsehen, als ihn der begnadete Songwriter Ben Folds unter seine Fittiche nahm. Zu Folds‘ süffigen Arrangements spricht Shatner da seine Gedichte und singen Gäste wie Henry Rollins, Aimee Mann oder Joe Jackson.

Schon im Titel, „Has Been“, kokettiert das Album mit dem englischen Sammelbegriff für tragikomische Prominente der Güteklasse D. Überdies glänzt der Greis mit einer Coverversion von „Common People“ – einem Hit der Gruppe Pulp, die schon Mitte der Neunzigerjahre ganz gefordert hatten: „Help The Aged.“

Die künstlerische, fast libidinöse Kollaboration von Jugend und Alter markiert eine spektakuläre Umkehrung der Verhältnisse. Wo die Abgrenzung zum Alter immer schwieriger wird, scheinen sich Epigonen und Urheber zu versöhnen. Es folgt ein Tauschgeschäft gegenseitiger Befruchtung, dessen Geschäftsgrundlagen klar sind: Jungen schließen sich kurz mit einer Vergangenheit, die ihr Rohstoff ist – wenn etwa die Black Crowes mit Jimmy Page oder Pearl Jam mit Neil Young musizieren. Im Gegenzug erleben die wirklich Alten durch die unverhoffte Aufwertung ihres Werks ein Leben nach dem Tod, eine Apotheose, eine Aufnahme unter die Götter – man denke nur an die biblische Würde eines Johnny Cash.

In seinem „Methusalem-Komplott“ hat Frank Schirrmacher einen „Krieg“ der Generationen prophezeit. Was sich im Pop derzeit andeutet, ist das exakte Gegenteil: ein neuer Generationenvertrag, ein gegenseitiges Übersetzen, ein Tanz. Sexuelle Anziehungskraft, einst Motor des Pop, verzichtet auf das Versprechen immergrüner Adoleszenz und verwandelt sich in eine Erotik der Weisheit. Pop sucht nach einer Sprache für Dinge, von denen er noch nie zu sprechen wagte. Und deshalb ist wertvoll, was ein 70 Jahre alter Zen-Mönch zu sagen hat: „Because of a few songs / I wrote about their mystery / Women have been exceptionally kind / To my old age“, singt Leonard Cohen auf seinem kostbaren neuen Album „Dear Heather“.

Mit seiner Attraktivität dürfte ein Robbie Williams noch lange keine Probleme haben. Vorsorglich aber hat er schon mal das neue Gesetz für ein anbrechendes Zeitalter formuliert: „I hope I’m old before I die“. Das Abenteuer geht weiter.