DIE EUROPÄISCHE ANNÄHERUNG AN LIBYEN ZEUGT VON DOPPELMORAL
: Die Außengrenze der Menschenrechte

Erinnert sich noch jemand an die rot-grüne Koalitionsvereinbarung von 1998? Dass da von einer Außenpolitik die Rede war, die von der Durchsetzung der Menschenrechte geleitet sein sollte? Besser nicht. Denn sonst müsste einem die Galle hochkommen angesichts der bigotten Haltung, die diese Bundesregierung – und nicht nur diese – inzwischen an den Tag legt. Allen voran Putin-Freund Gerhard Schröder, der diese Woche seinen britischen und italienischen Amtskollegen ins Zelt des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi hinterherfolgt.

Es muss Gaddafi unglaubliche Genugtuung bereiten, ohne jegliche politische Reformen im Inland innerhalb kürzester Zeit vom Paria zum begehrten Partner geworden zu sein. Libyschen Bürgern werden nach wie vor selbst die elementarsten Grundrechte verweigert, nach wie vor werden Oppositionelle verhaftet und gefoltert. Macht alles nichts, im Gegenteil: Die EU schickt sich an, ausgerechnet diesem System auch noch die Behandlung unliebsamer afrikanischer Flüchtlinge zu überantworten, die von dem angeblich die zivilgesellschaftlichen Werte verteidigenden Europa fern gehalten werden sollen.

Indem sie Libyen nach der Entschädigung für die Terroropfer von Lockerbie und La-Belle-Anschlag und der Aufgabe der Atomwaffenentwicklung wieder freudig in die Arme schließen, übernehmen die Europäer gerade jene US-Definition so genannter Schurkenstaaten, die sie mit Recht stets leidenschaftlich kritisiert haben. Solange ein Diktator die eigenen strategischen Interessen gefährdet, wird er geächtet – sobald er das nicht mehr tut, gilt die alte Devise: Ein Hurensohn, aber unser Hurensohn. „Durchsetzung der Menschenrechte“? Da lachen ja die Kamele.

Dass Gaddafi sich bemüht hat, die internationalen Beziehungen seines Landes zu entspannen, ist begrüßenswert. Dass dies allein dem Westen bereits ausreicht, ist beschämend. Der europäische Anspruch, eine Zivilmacht zu sein, der im Konflikt mit den USA gern hochgehalten wird – in Tripolis entlarvt er sich als hohle Arroganz. BERND PICKERT