Das eigentliche Wunder

Woher kommt das große Interesse für die Rettung der Bergleute von Nowoschachtinsk? Russland ist anders; Russland ist unsere Projektionsfläche, auf der die eigenen Befindlichkeiten herumgeistern

von KLAUS-HELGE DONATH

Vor Unglück und Katastrophen ist keine Gesellschaft gefeit, wie gut organisiert und hoch entwickelt sie auch sein mag. Es bleibt der Restfaktor Mensch. Obsessives westliches Sicherheitsdenken kann daran auch nur wenig ändern. Die Folgen einer Katastrophe für den Einzelnen lindert es aber allemal.

In Russland ist das anders. Hier vermitteln Schicksalsschläge ein Gefühl von Gemeinsamkeit und Gottvertrauen. Die Bergleute von Nowoschachtinsk sind bis auf einen gerettet. Gott sei Dank! Wer wollte da nicht von Wunder reden, zumal Wunder entlasten und davon entbinden, das Gesetzmäßige am Geschehen zu klären, Verantwortliche und Schuldige zu ermittlen.

Kaum waren die Kumpel in Südrussland gerettet, starben fünf Bergleute 8.000 Kilometer weiter im Osten bei einer Explosion in einem Stollen. Gesetzmäßiger Zufall. Bergleute und Schriftsteller leben in Russland seit jeher gefährlich. Jedes Jahr sterben zwischen Kaliningrad und Wladiwostock genau so viele Bergleute wie 1917 im Zarenreich. Ein Beleg dafür, wie sehr Russland doch an der Ewigkeit gelegen ist. Aus deutscher Sicht macht das Russland so rätselhaft aufregend. Wo keine messbare Geschichte stattfindet, muss man sich auch nicht um Verständnis und Verstehen bemühen, da reichen Gefühle und Gefühliges. Das Leiden der Bergleute ist tragisch, sie sind gerettet, wir alle atmen auf.

Vor allem, da wir hinter der glücklichen Nachricht nicht begreifen müssen, was in Russland zurzeit tatsächlich geschieht. Die alten Kader des FSB übernehmen die Herrschaft, die geistigen Söhne jener KGB-Geheimdienstler, die in der Sowjetunion Millionen Menschen mit bloßen Händen in die Gruben schickten. Das hat alles nichts mit russischer Spiritualität zu tun. Eher mit dem Anderssein, das wir fürchten und doch in der bei uns abhanden gekommen Metaphysik ausgerechnet dort suchen. Russland ist unsere Projektionsfläche, auf der die eigenen Befindlichkeiten herumgeistern.

Die russischen Kumpel haben Übermenschliches geleistet mit vorsintflutlicher Technik und ohne nennenswerte Hilfe des Staates. Putin war nicht vor Ort und hat den Krisenstab auch nicht geleitet. George W. Bush hätte sich das nicht entgehen lassen. Das ist nicht nur Oberfläche, sondern ein anderes Verhältnis von Staat und Bürger.

Die Aufopferungsbereitschaft der Menschen leistet in Russland immer wieder Unmögliches und verdient Respekt. Gleichwohl sollte sie nicht den Blick darauf verstellen: Die Menschen verachtende Haltung der Vorgesetzten in allen Bereichen und Hierarchien ist es, die Katastrophen in Kauf nimmt. Und es sind dieselben Helden, die dies tagein, tagaus mit sich machen lassen.

Dahinter versteckt sich eine Lebensform, die unserer Ethik nicht nur widerspricht, sondern sich ihr auch zunehmend überlegen fühlt. Millionen Dollarbeträge flossen in den Neunzigerjahren aus dem Westen zur Modernisierung des Kohlebergbaus, die in den Stollen versickerten. Danach fragt indessen keiner. Denn Russland stellt man keine Fragen mehr, nicht nach dem Krieg gegen eigene Bürger, nicht nach Rechtsbeugungen und der Hatz nach den letzten unermüdlichen Pionieren der Zivilgesellschaft. Russland ist gesund, hat der Westen entschieden, und die Wirtschaft betet es nach. Je weniger Ansprechpartner desto schneller der Kapitalrücklauf, je schicksalsergebener der eigene Mensch, desto anspruchsloser.

Wunder eignen sich für Geschichten, nicht für Geschichte. Putin hat seinem Volk Winterschlaf verordnet und den Westen gleich mit in den Schlaf gesungen. Das ist das eigentliche Wunder und die Gewähr, dass in Russland auch weiterhin Wunder geschehen werden.