Daten für alle Bürger

In einer europäischen Agentur sollen Infos über gesundheitsschädigende Stoffe gespeichert werden

Jetzt müssen die Hersteller zeigen, dass eine Chemikalie unbedenklich ist

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Die Botschaft war klar: Zwischen „Erkki“ und „Margot“ hat es nie den geringsten Konflikt gegeben. Demonstrativ lächelnd und scherzend stellten sich Industriekommissar Liikanen und Umweltkommissarin Wallström gestern gemeinsam den Journalistenfragen. Sie erläuterten den zwischen beiden Häusern ausgehandelten Vorschlag zur Registrierung, Bewertung und Zulassung chemischer Substanzen. Glaubt man den Kommissaren, sind nun beide rundum glücklich mit dem Entwurf.

Wallström hob die aus ihrer Sicht entscheidenden Verbesserungen hervor: Bislang habe der Verbraucher beweisen müssen, dass ein Stoff gesundheitsschädlich sei, nun müsse der Hersteller die Unbedenklichkeit bescheinigen. Nur Produkte, über die ausführliche Informationen vorlägen, dürften auf den Markt gebracht werden. Die Daten müssten allen Weiterverarbeitern und den Verbrauchern zugänglich gemacht werden. So würden Mehrfachtests vermieden und gerade auch Tierversuche reduziert.

Das seit zwanzig Jahren geltende Regelwerk werde den veränderten Bedingungen angepasst. Schließlich habe sich der Stellenwert der Chemie dramatisch verändert: 1930 sei nur eine Million Tonnen chemischer Stoffe in Europa produziert worden, heute würden in der EU 400 Millionen Tonnen pro Jahr hergestellt. Nur 3 Prozent davon seien ausreichend auf ihre Wirkung auf Mensch und Umwelt getestet.

Wallström und Liikanen betonten beide, der Vorschlag sei ausgewogen. Er berücksichtige sowohl die Interessen der Industrie als auch das Recht der Verbraucher, vor gefährlichen Substanzen geschützt zu werden. Nach der bisherigen Gesetzgebung mussten chemische Produkte ab 10 Kilo Jahresproduktion in einem komplizierten und unübersichtlichen Verfahren getestet werden. Das galt allerdings nur für Stoffe, die nach 1981 entwickelt wurden. Wegen der hohen Kosten scheute die Industrie davor zurück, nach umweltschonenden Alternativen für vor dem Stichtag auf den Markt gebrachte Chemikalien zu suchen.

Die Kommission hat in ihrem Entwurf die Schwelle auf eine Tonne Jahresproduktion heraufgesetzt. Wer mindestens diese Menge einer Chemikalie herstellt oder verarbeitet, muss sicherstellen, dass der Stoff in der Datenbank der neuen europäischen Agentur für chemische Stoffe registriert ist. Im Bereich zwischen 1 Tonne und 10 Tonnen Jahresproduktion will die Industrie ein vereinfachtes Verfahren einführen. Erst bei einer Jahresproduktion von mehr als 10 Tonnen sind aufwändige Tests vorgeschrieben.

Bisher musste der Verbraucher nachweisen, dass ein Stoff gefährlich ist

Hat die Agentur aber den begründeten Verdacht, dass ein Stoff umweltschädigend oder gesundheitsgefährdend ist, kann sie zusätzliche Informationen vom Hersteller anfordern. Ferner sollen Krebs erzeugende, erbgutschädigende und andere hoch giftige Stoffe nur noch für bestimmte Verwendungen zugelassen werden. Im ursprünglichen Kommissionsentwurf stand allerdings, dass solche Stoffe ersetzt werden müssen, wenn eine weniger schädliche Alternative auf dem Markt ist. Jorgo Iwasaki-Riss, der bei Greenpeace für Chemiepolitik zuständig ist, hält diese Änderung im Vergleich zum Ausgangstext für gravierend. Dadurch falle jeder Anreiz weg, umweltverträgliche Alternativen zu bestehenden Stoffen zu entwickeln. „Frau Wallström tut so, als habe sie ihren Entwurf in der Substanz verteidigen können. Dabei ist das Zulassungsverfahren stark verwässert worden“, urteilt Iwasaki-Riss.

Industriekommissar Liikanen machte gestern kein Hehl daraus, was sein Hauptanliegen war: „Wir haben den ganzen Sommer über versucht, die Kosten für die Industrie auf ein Minimum zu drücken.“ Glaubt man seinen Berechnungen, dann hat sich die Mühe für die Industrie gelohnt. Hätten alle 30.000 Substanzen aufwändig getestet werden müssen, von denen ein Hersteller mehr als 1 Tonne im Jahr produziert, wären Belastungen von 12,6 Milliarden Euro auf die Chemieindustrie zugekommen. Die betroffenen Verbände malten deshalb den Verlust von 1,7 Millionen Arbeitsplätzen allein in Deutschland an die Wand. Nun gilt das gründliche Verfahren nur für 10.000 Substanzen, die bei einzelnen Herstellern 10 Tonnen oder mehr der Jahresproduktion ausmachen. Die Kosten für chemische Industrie und Anwender sinken damit auf eine Größenordnung zwischen 2,3 und 5,2 Milliarden Euro.

Der Schlagabtausch zwischen Chemieindustrie und Umweltverbänden, der mit dem Chemie-Weißbuch im Februar 2001 begann, ist noch lange nicht zu Ende. Nun müssen sich die nationalen Fachminister und das Europaparlament mit der Vorlage beschäftigen. Im Rat wird eine qualifizierte Mehrheit gebraucht. Frankreich, Deutschland und Großbritannien haben schon im September in einem Brief an Romano Prodi „substanzielle Änderungen“ der Chemikalienrichtlinie gefordert. Der Europäische Rat schrieb Mitte Oktober in Brüssel die Sorge um die Auswirkungen des Vorschlags auf die mittelständische Industrie sogar in seine Schlusserklärung.