„Kaplan ist nicht so bedeutend, wie Schily meint“, sagt Werner Schiffauer

Kaplan ist in der Türkei, seine Bewegung verboten. Ein Erfolg ist das nicht. Erst das Verbot hat Kaplan wichtig gemacht

taz: Herr Schiffauer, Sie haben den Kalifatstaat des Metin Kaplan in Ihrem Buch „Die Gottesmänner“ soziologisch untersucht. Die Ausweisung Kaplans wird nun von vielen Beobachtern als gelungener Schachzug gegen islamistische Extremisten gefeiert. Freuen Sie sich darüber mit Schily und Beckstein?

Werner Schiffauer: Ich finde, die Bedeutung Kaplans ist von den beiden überschätzt worden. Das ist symbolische Politik, die da betrieben wird.

Aber symbolische Politik kann der Abschreckung dienen.

Das wird immer als Argument benutzt. Doch es gibt eine starke Strömung unter Muslimen, die sich als die Opfer schlechthin sehen. Sie finden sich zusammen, wenn jemand wie Kaplan auftaucht. Aber durch das Verbot der Kaplan-Gemeinde wird dieses Potenzial nicht zerstört.

Man könnte ja sagen, mit der Ausweisung Kaplans wurde die Bewegung enthauptet.

Das setzt die These voraus, dass solche Bewegungen von oben nach unten laufen. Man verhaftet den Führer – dann ist die Bewegung zu Ende. Was wir wissen, ist, dass es Zirkel gibt, die sich immer wieder getroffen haben, die sich auch weiter treffen. Ich schätze Kaplans direkte Bedeutung für diese Zirkel nicht allzu hoch ein. Die Anhänger des Kalifatstaates sind Leute, die sich durchaus aktiv ihr Weltbild gebildet haben. Wenn dieser Eindruck stimmt, dann wird es mit der Kaplan-Bewegung nicht zu Ende sein, weil Kaplan abgeschoben worden ist.

Eine Bewegung von jungen, hier geborenen Intellektuellen?

Ja, solche, die irgendwie einen revolutionären Ausblick haben und an den Ungerechtigkeiten der Welt leiden.

Und was ist das Revolutionäre an ihrer Haltung?

Das Schlagwort ist – und es bleibt auch bei Schlagworten – Gerechtigkeit. Das bedeutet eine höhere Verteilungsgerechtigkeit und politische Gerechtigkeit gegen amerikanische Dominanz und politisches Hegemoniestreben. Der Diskurs ähnelt dem Dritte-Welt-Diskurs der 70er-Jahre.

Antisemitismus, Frauenunterdrückung, patriarchale Strukturen – das ist doch reaktionär und nicht revolutionär.

Sie würden sich selber als revolutionär bezeichnen. Revolutionär ist der Wunsch nach Gestaltung der Welt.

Also war das Verbot des Kalifatstaats von 2001 überflüssig?

Ich bin der Meinung, dass Verbote kontraproduktiv sind. In diesem Fall hat das Verbot der Organisation neues Leben eingehaucht. Die Organisation war 2001 innerhalb der türkischen Gemeinden schon so gut wie tot. Man sollte also überlegen, was es bedeutet, wenn man so eine Bewegung in den Untergrund treibt, anstatt sie in der Spinnerecke zu lassen. Denn dann bleibt es eine offen auftretende, kleine, beobachtbare Gruppe, die man unter Kontrolle hat.

Nicht ganz. Kaplan ist ja immerhin wegen Aufruf zum Mord zu vier Jahren Haft verurteilt worden.

Niemand hat an der Legitimität der Gefängnisstrafe Zweifel. Zweifel hatte ich erst, als er zum Ziel der Schily’schen Innenpolitik gemacht wurde. Wenn jemand wie Schily sich mit einem Phänomen wie Kaplan auseinander setzt, dann wird dieses aufgewertet.

Viel Feind, viel Ehr …

Genau. Die Kaplan-Bewegung hat immer damit gespielt, dass sie Autoritäten provoziert hat, die darauf reagiert haben. Dann hat die Kaplan-Bewegung in ihrer eigenen Gemeinde diese Autoritäten zitiert. Und damit den Gläubigen signalisiert: „Seht, wie gefährlich wir sind.“ Als sie es geschafft haben, dass der türkische Staatspräsident sie in einem Aufruf erwähnt hat, ist ein Triumphgeheul ausgebrochen.

Sie glauben also, wer bellt, beißt nicht?

Ja. Und die Kaplan-Gemeinde hat viel gebellt. Die Aktivisten haben niemals einen Hehl aus ihrer Meinung gemacht. Es waren ja keine Schläfer. Sie haben sich zum Kalifat bekannt und sind für ihre Überzeugung auf die Straße gegangen. Für al-Qaida sind die Kaplan-Leute ungeeignet. Ihr Problem war der nicht aufgeklärte Mord an dem Gegenkalifen. Das waren die harten Fakten.

Und die Anschlagspläne in der Türkei, wegen denen Kaplan nun dort vor Gericht steht?

Da würde ich gerne die Beweise sehen.

Herr Schiffauer, manche werfen Ihnen Blauäugigkeit vor. Wollen Sie den Extremismus dieser Gruppierungen herunterreden?

Ich versuche in meiner Arbeit als Soziologe den Extremismus genau zu beschreiben. Die einzige Gefahr besteht darin, dass sich aus diesen Gruppen Söldner für islamische Kriege rekrutieren lassen – wie beispielsweise in Tschetschenien. Hier muss man wachsam sein.

Sie setzen also auf die Auseinandersetzung innerhalb der islamischen Gemeinde als Gegenposition zu den Kaplan-Leuten?

Ja – und auf Integration der islamischen Gemeinden in die Mehrheitsgesellschaft. Dazu gehört auch der Dialog, etwa mit Milli Görüs. Milli Görüs entwickelt orthodoxe Gegenpositionen zu Kaplan. Sie zeigen, dass man als strenggläubiger Muslim auch in Europa leben kann.

Milli Görüs wird vorgeworfen, sich in der deutschen Öffentlichkeit tolerant zu präsentieren, aber intern ganz anders zu reden.

Wenn Milli Görüs doppelzüngig ist, so wird sie in einer offenen Gesellschaft doch auf die Positionen festgelegt werden, die sie nach außen vertritt.

INTERVIEW: EDITH KRESTA