Mehr Staat wagen

Gesundheitsökonom Bert Rürup hat gerechnet: Die Kopfpauschale ist gerecht – wenn man die Steuern erhöht. Erneut zeigt sich, dass Solidarität ohne Staat nicht denkbar ist

Trotz Gesundheits-Soli würde der Spitzenverdiener Josef Ackermann jährlich 180.000 Euro sparen

Es war zum Gähnen; seit mehr als einem Jahr streiten sich CDU und CSU ergebnislos über ihre Gesundheitspläne. Doch nun ist immerhin die Langeweile vorbei. Ausgerechnet die CDU, so wurde nämlich vorgerechnet, scheint eine fast sozialistische Verteilungspolitik zu fordern. Das hatte Parteichefin Angela Merkel bestimmt nicht vor. Kann es also wahr sein? Es lohnt sich, die Diskussionen dieser Woche nachzuzeichnen, weil sie viel über Solidarität in Deutschland erklären.

Bisher war es gängig, die CDU-Kopfpauschale – hübscher „Gesundheitsprämie“ – in einem einzigen vernichtenden Satz zusammenzufassen: „Dann zahlt die Sekretärin genauso viel wie der Chef.“ Momentan stellt sich die CDU für jeden Erwachsenen etwa 180 Euro monatlich vor. Vielleicht sind es auch nur 169 Euro plus Privatversicherung fürs Krankengeld. Doch egal in welcher Höhe: Die einheitliche Kopfpauschale ist ungerecht – und wird von der Mehrheit der Deutschen auch so empfunden.

Doch so unsozial ist die CDU gar nicht! Geringverdiener sollen einen Zuschuss bekommen, der über Steuern finanziert wird. Allerdings ist zu begreifen, dass die Öffentlichkeit dies bisher eher ignorierte – schließlich konnte sich die CDU nicht festlegen, woher die Zusatzsteuern fließen. Soll die Mehrwertsteuer steigen? Soll es einen „Gesundheits-Soli“ geben, der prozentual auf die Steuerschuld erhoben wird? Oder kombiniert man die Kopfpauschale mit einer Steuerreform, die den Spitzensteuersatz auf 36 Prozent senkt?

Anfang dieser Woche erhielt die CDU dann Nachhilfeunterricht. Gesundheitsexperte Bert Rürup, zwar SPD-Mitglied, aber trotzdem für die Kopfpauschale, rechnete vor, dass die CDU eigentlich die bessere Sozialdemokratie sei. Denn vor allem die Reichen müssten zahlen; es würde von oben nach unten verteilt. Das wäre eine Sensation in der Geschichte der Bundesrepublik.

Für sein Rechenbeispiel wählte Rürup publikumswirksam den Spitzenverdiener Josef Ackermann. Der selbstgefällige Chef der Deutschen Bank gehört nicht mehr zu den öffentlichen Favoriten, seitdem er sich im Mannesmann-Prozess mit gespreizten Victory-Fingern ablichten ließ. Diese Siegeszuversicht könnte ihm ausgerechnet unter CDU-Ägide vergehen. Denn Ackermann müsste monatlich 45.409 Euro bei einem „Gesundheits-Soli“ von 11,9 Prozent zahlen; bisher dürften für ihn und seine Frau nur etwa 1.000 Euro für die private Krankenkasse anfallen. In der Tat, die Kopfpauschale scheint ein schlechtes Geschäft für Reiche zu sein.

Das gilt aber nur bei bestimmten Prämissen. So unterstellte Rürup, dass jeder Geringverdiener unterstützt wird, der für eine Kopfpauschale mehr als 12,5 Prozent seines Haushaltseinkommens aufwenden müsste. Doch andere CDU-Modelle sehen vor, diese Belastungsgrenze auf 15 Prozent hochzusetzen, um die Zahl der Anspruchsberechtigten drastisch zu senken. Dann ließe sich der Gesundheits-Soli stark reduzieren. Armut ist immer eine Definitionsfrage – genauso wie Reichtum. Denn Rürup geht davon aus, dass die CDU das bisherige Steuersystem beibehält und nur um einen Gesundheits-Soli ergänzt. Die Union hat sich jedoch auf ein Steuerkonzept verständigt, das den Spitzensteuersatz auf 36 Prozent senkt.

Sollte die Union zu ihrem Programmwort stehen, dann könnte Ackermann sich freuen: Trotz Gesundheits-Soli würde er 180.000 Euro jährlich sparen. Stattdessen würden Rentner und normale Familien mit Kindern belastet, wie nun SPD-Gesundheitsökonom Karl Lauterbach errechnet hat. CSU-Sozialexperte Horst Seehofer kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Diese Replik auf Rürup war bestimmt nicht die letzte Kalkulation in Sachen Kopfpauschale.

Was ist etwa mit der Lieblingsidee des CDU-Finanzexperten Friedrich Merz? Er will den Sozialausgleich bei der Kopfpauschale über eine erhöhte Mehrwertsteuer aufbringen. Allerdings ist selbst ohne Nachrechnen deutlich, dass das Ergebnis paradox wäre: Die Geringverdiener würden ihren eigenen Sozialausgleich mitfinanzieren – schließlich entfällt die Mehrwehrtsteuer auch aufs Lebensnotwendige.

Dieses Zahlenwirrwarr ist ein bisschen mühsam, aber drei Einsichten lassen sich gewinnen:

1. Wer eine Kopfpauschale will, muss die Steuern erhöhen. Das wird CDU-Parteichef Angela Merkel vor den Wahlen natürlich kaschieren. Aber für weitere Steuergeschenke fehlt das Geld. Schon jetzt erlebt die Bundesrepublik ein einzigartiges Szenario: Die Wirtschaft wächst in diesem Jahr um 2 Prozent, das ist sehr ordentlich – und dennoch liegt die Neuverschuldung so hoch, dass der Bundeshaushalt eigentlich verfassungswidrig ist.

2. Dass die Kopfpauschale höhere Steuern verlangt, muss man nicht schlimm finden. Wie die Berechnungen von Rürup und Lauterbach zeigen, ist zwar nicht jedes Steuermodell solidarisch. Aber umgekehrt gilt: Nur eine steuersubventionierte Krankenversicherung ist gerecht. Rürup stellt gern und berechtigt heraus, dass die Kopfpauschale überraschend fair ist, wenn man sie mit einem vernünftigen Sozialausgleich koppelt. Schließlich müssten Privatversicherte, Spitzenverdiener und Superreiche kräftig für den Gesundheits-Soli zahlen – bisher haben sie nichts mit den gesetzlichen Krankenkassen zu tun. Dort ist nur die Mittelschicht solidarisch mit den Ärmeren.

3. Eine gerechte Kopfpauschale wirkt wie eine zweite Einkommen- und Ertragsteuer – was sollte ein Gesundheits-Soli sonst auch sein. Steuerähnlich wäre übrigens auch das Konkurrenzmodell der Bürgerversicherung, das Krankenkassenbeiträge auch auf Miet-, Zins- und Kapitalerträge erheben will.

Durch die Rechenschlacht der Gesundheitsökonomen wurde nun noch deutlicher, wie eng Gesundheits- und Steuerpolitik zusammenhängen. Daher erstaunt, dass eine nahe liegende Konsequenz beharrlich ignoriert wird. Wenn die Krankenkassenbeiträge immer steuerähnlicher werden sollen, warum stellt man nicht auf komplette Steuerfinanzierung um? Das würde kostenträchtige Doppelstrukturen sparen wie über 300 gesetzliche Krankenkassen, Privatkassen, Risikostrukturausgleich und Zusatzbürokratien für Bürgerversicherung oder Kopfpauschale.

Über 300 gesetzliche Krankenkassen, Privatkassen und Zusatzbürokratien könnte man sich sparen

Zudem ist dieser Kompetenzdschungel nur noch von Experten zu begreifen; die Wähler sind längst entmündigt, das gehört sich nicht in einer Demokratie. Natürlich sind Experten unverzichtbar, aber das ist keine Lizenz für sinnlose Komplexität.

Dennoch wird über eine Steuerfinanzierung noch nicht einmal gestritten, sie wird beschwiegen – zu tief ist das Misstrauen gegenüber dem Staat. Er könnte die Kranken zu Bittstellern degradieren, wird befürchtet, oder könnte in Haushaltsnotlagen die Zuschüsse kürzen.

Aber Staatsferne gibt es nicht in der Gesundheitspolitik, das ist der Witz der jüngsten Zahlenschlacht. Gerade die Kopfpauschale galt immer als besonders privatistisch. Doch sie ist das Gegenteil, wenn es fair zugehen soll – nämlich eine Art Steuererhöhung. Soziale Gerechtigkeit ist ohne Staat nicht denkbar.

ULRIKE HERRMANN