berliner szenen Stehen ist besser

Die Freiheit der Rotgeher

Ich gehe nicht über rote Ampeln. Aus Prinzip nicht. Es ist eine Haltungsfrage. Reden Sie ruhig dagegen, wenn sie wollen. Ich wohne in einer Stadt, ich habe es oft sehr eilig, ja, man kann das machen, wenn keine kleinen Kinder zusehen, ja ja, andere tun das doch auch.

Erst schauen sie rechts, dann links, dann nach hinten, dann gehen sie einen Schritt, halten inne, zögern eine Sekunde, laufen dann über die Straße, bleiben an der anderen Seite stehen, sehen sich um, keine Polizei, nirgends, dann triumphieren sie, heben, zum ersten Mal an diesem Tag vielleicht, den Kopf, ihr Herz schlägt ihnen stolz in der Brust, sie stellen es aus, sie fühlen sich heldenhaft mit einem Mal. Sie sind so glücklich, weil sie einmal, ein einziges Mal neben dem obligatorischen kleinen Steuerbeschiss, frei sind.

Andere, weniger verklemmte Menschen schreiten vielleicht aufrechter über die Fahrbahn, doch auch bei ihnen – achten Sie mal darauf! – gibt es diesen Moment des Zögerns und ebenso später diesen so offensichtlich genossenen, klitzekleinen Triumph. Da tue ich nicht mit. Ich mache mich nicht gemein mit diesen kleinen Michael Moores und ihrem Kampf für die Neue Straßenverkehrsordnung. Sie sind in Massen individuell, sie sind die Mehrheit, sie brauchen das. Ich aber, ich bleibe stehen, wenn mir Rot angezeigt wird. Ich warte, bis das verteufelte grüne Männchen aufscheint. Das verzeihen die Rotgeher mir nicht. Meine Revolution ist ein innere. Sie jedoch rempeln an mir vorbei, stürzen sich nach kleinem Seelenkampf mutig auf die Straße, und halten mich für einen Spießer, für jemanden, der sich nicht traut. Wenn sie wüssten, welchem Ungeist ich mich kühn verweigere! Erzittern würden sie! JÖRG SUNDERMEIER