Unruhige Kinder durch unruhige Welten

„Zappelkinder“ kriegen mehr Beachtung – deshalb wächst ihre Zahl statistisch. Dabei sind Jungen etwa viermal häufiger betroffen als Mädchen. Ärzte warnen: Pillen dagegen helfen nur kurzfristig

ADHS-Kinder haben ein höheres Unfallrisiko. Und sie leiden unter der Umwelt, die von ihnen schnell genervt ist. Depressionen und Angst sind schlimme Folgen

bremen taz ■ Ewig unruhige Kinder, unkonzentriert und vertieft in ihre eigene Welt – das können Anzeichen sein für das ADHS-Syndrom, das Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitäts-Syndrom. Muss aber nicht. Darauf wiesen Burkhard Mehl, Arzt am Sozialpädiatrischen Institut des Klinikums Mitte, und Elke Scharnetzky, Medizinerin und Mitarbeiterin der Arbeitsgruppe Arzneimittelanwendungsforschung der Uni Bremen am Mittwochabend beim Gesundheitsdialog hin – zu dem Eltern und Fachpublikum gekommen waren.

„Vor jeder Diagnose muss eine umfassende Anamnese stehen. Alle Lebensumstände des Kindes müssen durchleuchtet werden“, mahnte Mehl. Zeige ein Kind beispielsweise nur in der Schule auffällige Verhaltensweisen, könne das auch mit dem Unwohlsein des Kindes in nur dieser Einrichtung zusammenhängen. Außerdem werde bei der Diagnostik geguckt, ob das auffällige Verhalten über sechs Monate anhält und das Kind die Symptome schon vor dem Schuleintritt aufwies. Eine solche gründliche Untersuchung verhindere falsche Einschätzungen – etwa die, dass es sich bei einem lebensfrohen Kind mit großem Bewegungsdrang um ein krankes mit „Botenstoffproblem“ handelt. Das nämlich ist die Ursache für ADHS: Das kindliche Nervensystem kann die Reize nicht wie bei gesunden Kindern weiterleiten, da die Botenstoffe gehindert werden, ihre Informationen von Synapse zu Synapse weiterzuleiten. Folge: Die Kinder leiden unter ihrer ständigen Unruhe, die sie versuchen abzubauen, wobei sie noch das Unverständnis ihrer Umgebung ernten.

Viele Eltern und Lehrer reagieren auf Zappelkinder überfordert und genervt. Aber auch die Kinder, die als in ihrem Umfeld als ständige Störer wahrgenommen werden, weil sie oft laut und ungeduldig erscheinen, leiden darunter. In der Klasse werden sie schnell zu Außenseitern. Drei von hundert Kindern sind betroffen, Jungen etwa viermal häufiger als Mädchen. Nicht selten werden die Kinder später depressiv – oder fallen durch dissoziales Verhalten auf. Viele ADHS-Kinder erkranken zudem schon früh an Angstzuständen oder Lese- und Rechtschreibschwäche. „Wir beobachten auch, dass diese Kinder ein hohes Unfallrisiko haben“, sagte Scharnetzky. Helme könnten hier viele böse Schrammen verhindern.

Therapiemethoden gegen die Verhaltensauffälligkeiten der Kinder reichen von der Einnahme verschiedener Medikamente über Verhaltenstherapie bis hin zu einer Schulung von Eltern und Lehrern. „Uns ist es wichtig, eine multimodale Therapie einzuschlagen. Nur Pillengabe darf nicht die Lösung sein“, so Scharnetzky. Elternarbeit sei wichtiges Standbein der Therapie.

„Eltern sollten geglückte Taten des Kindes loben so oft es geht“, raten Ärzte. Dadurch werde den Kindern leichter bewusst, welche Verhaltensweisen erwünscht sind: Das langsame Führen der Tasse – statt der schwappende Knall. Oder das ruhige Schließen der Tür – statt des schwungvollen Krachs. Die Kinder müssten Grenzen spüren – ohne jedoch das Gefühl zu bekommen, ständig kontrolliert zu werden.

Ein umstrittener Punkt in der Arbeit mit „Zappelkindern“ ist die Gabe von Medikamenten wie Methylphenidat. Die Gesamtverordnungsmenge der einschlägigen Arzneien ist in Deutschland in den letzten 20 Jahren stark gestiegen – oft auch, weil Eltern sich Entlastung versprechen. „Als Mutter ist man doch froh, wenn man endlich das Gefühl hat, dass es mit den Pillen einfache Hilfe gibt“, berichtet eine Mutter durchaus selbstironisch.

Doch so einfach sollte man sich nicht blenden lassen. „Die Kinder nur mit den Pillen ruhig zu stellen, bietet keine echte Lösung“, warnt Burkhard Mehl. Zwar wiesen viele Medikamente eine schnelle Wirkung auf, doch seien längerfristige Nebenwirkungen in Forschung und Praxis bis jetzt nicht belegt. Kurzfristig könnten die Kinder mit Übelkeit, Appetitlosigkeit und Wachstumsstörungen reagieren.

„Man muss also in alle Richtungen gucken“, sprachen sich die Doktoren Mehl und Scharnetzky gegen eine rein medikamentöse Behandlung aus. Dass das schwer werden kann, räumten beide zugleich ein: Beim Sozialpädiatrischen Institut in Bremen gibt es lange Wartelisten.

Julia Bartelt